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1991 · Christophorus mvsica practica 77117
2011 · Christophorus entrée CHE 0163-2
Moniot d'ARRAS, 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts
1. Ce fu en mai [2:54]
Tanzlied · RH, HG, Blockflöte, Fidel,
Mittelalter-Laute, Schlagwerk
Paris, Bibl. de l'Arsenal, ms 5198
Eine Tanzszene im Mai: Das literarische „Ich" sieht
sehnsüchtig einer Gruppe von tanzenden Verliebten zu und wird von
diesen getröstet.
ANONYM, 13. Jahrhundert
2. En un vergier lez une fontenele
[5:46]
Chanson d'histoire, Chanson de mal-mariée · SL, RH, Fidel,
Mittelalter-Laute, Schlagwerk
Paris, Bibl. Nat., fr. 20050
Eine mit einem alten Widerling verheiratete Königstochter sehnt
sich nach Ihrem geliebten Grafen Gui, wird vom Ehemann misshandelt,
aber schließlich doch von Gott (und Gui) erhört.
ANONYM, aus Carmina Burana, ca.1230
3. Lucis orto sydere [2:14]
Lateinische Pastourelle · HG, Fidel, Mittelalter-Laute
München, Bayerische Staatsbibl. Codex Buranus
In dieser Pastourelle wird der große böse Wolf bemüht,
um die Sache zu einem (für den Ritter) erfolgreichen Ende zu
bringen.
ANONYM, Ende 12./13. Jahrhundert
4. Por coi me bait mes maris
[2:55]
Ballate, Chanson de mal-mariée · SL, Blockflöte,
Fidel, Mittelalter-Laute, Schlagwerk
Oxford, Bodleian Library, Douce 308
Eine misshandelte Ehefrau will sich an ihrem Ehemann rächen:
„Mit meinem Freund will ich schlafen, ganz nackt".
Blondel de NESLE, ca.1150—1202
5. L'amours dont sui espris
[5:43]
Chanson courtoise · RH, Fidel, Mittelalter-Laute, Harfe,
Psalterium
Paris, Bibl. Nat., fr. 844, fr. 846, fr. 12615 & Paris, Bibl. de
l'Arsenal, ms 5198
Eine höfische Kanzone: Lieben ohne erhört zu werden,
Schwanken zwischen Hoffen und Verzagen.
ANONYM, 13. Jahrhundert
6. La uitime estampie royal
[1:57]
instrumental · Blockflöte, Fidel, Mittelalter-Laute,
Schlagwerk
Paris, Bibl. Nat., fr. 844<br>
Jehan BODEL, 1165—ca.1210
7. Contre le dous tans novel
[3:57]
Pastourelle · SL, HG, Fidel, Mittelalter-Laute
Paris, Bibl. Nat., fr. 844
Diese Pastourelle mit konventionellem Anfang endet in einem
verzweifelten Fluch der Schäferin auf die „Franzosen", die
ihr Dorf verwüstet haben.
ANONYM, 12./13. Jahrhundert
8. Jherusalem, grant damage me fais
[7:16]
Chanson de croisade, Frauenklage · SL, Fidel, Chitarra
sarazenica
Paris, Bibl. Nat., fr. 844 & fr. 846
Die erschütternde Klage eines Mädchens, dem ein Kreuzzug
seinen Liebsten genommen hat.
Colin MUSET, ca.1200—1250
9. Volez oïr la muse Muset
[4:22]
Reverdie · RH, Fidel, Mittelalter-Laute, Schlagwerk
Paris, Bibl. de l'Arsenal, ms 5198, Paris, Bibl. Nat., fr. 844 &
nouv. Acq. Fr. 1050
Der Spielmann Colin Muset erzählt von einem Liebesabenteuer im Mai
mit einer hübschen Jungfrau; er spielt ihr auf seiner Fidel ein
Liedchen vor und sie schenkt ihm einen Kuss und noch mehr.
Jean ERART, gest. ca.1258—59
10. Par un tres bel jour de mai
[4:22]
Pastourelle · HG, Schalmei, Mittelalter-Laute, Harfe,
Schlagwerk
Roma, Bibl. Vaticana, reg. 1490
In dieser Pastourelle hat Robin, der Freund der Schäferin, das
Nachsehen; während er auf seinem Dudelsack spielt, vergnügen
sich seine Freundin und der Ritter.
ANONYM, 12. Jahrhundert
11. De ramis cadunt folia [4:57]
Lateinisches Liebeslied · HG, Blockflöte, gestrichene
Chitarra sarazenica, Harfe
Paris, Bibl. Nat., lat. 3719
Nach einer eindrucksvollen Schilderung der im Winter erstarrten Natur
erzählt der Sänger von seinem nicht zu löschenden
Liebesfeuer.
Thibaut DE CHAMPAGNE, 1201—1253
12. L'autrier par la matinee
[2:28]
Pastourelle · SL, RH, Mittelalter-Laute, Schlagwerk
Paris, Bibl. Nat., fr. 844 & fr. 24206; Bern, Stadtbibl., Cod. 231;
Paris, Bibl. de l'Arsenal, ms. 5198
In dieser Pastourelle hat der Ritter kein Glück: Als er der
Schäferin nach langen verbalen Attacken auch körperlich
nahetreten will, ruft sie nach ihrem Freund Perin; der Ritter ergreift
unrühmlich die Flucht.
ANONYM, 13. Jahrhundert
13. La septime estampie royal
[0:57]
instrumental · Schalmei, Fidel, Mittelalter-Laute, Schlagwerk
Paris, Bibl. Nat., fr. 844
ANONYM, 12./13. Jahrhundert
14. Bele Yolanz en ses chambres ses
seoit [3:46]
Chanson de toile · SL, Fidel
Paris, Bibl. Nat., fr. 20050
Als die schöne Jolande in ihrer Kammer beim Nähen sitzt,
tritt ihr Geliebter ein und — das Nähzeug ist für
diesen Abend vergessen.
ANONYM, 12. Jahrhundert
15. Ecce letantur omnia [4:54]
Lateinisches Liebeslied · RH, HG, Schalmeien, Fidel,
Mittelalter-Laute, Schlagwerk
Paris, Bibl. Nat., lat. 3719
Ein ekstatisches Preislied auf die Liebe.
ensemble für frühe musik augsburg
Sabine Lutzenberge: Gesang SL, Blockflöten, Schalmei, Gotische
Harfe
Hans Ganser: Gesang HG, Psalterium, Schlagwerk
Rainer Herpichböhm: Gesang RH, Mittelalter-Laute, Chitarra
sarazenica, Gotische Harfe
Heinz Schwamm: Fideln, Schalmei
Executive producer: Reinhard Kiendl
Recording: December 1991, Augsburg, Barbara-Saal
Recording producer & digital editing: Dietmar Vogg
Editor: Susanne Lowien
Cover design: Joachim Berenbold
MITTELALTERLICHE LYRIK IM NORDEN FRANKREICHS
von Heinz Schwamm
Lyrik in der Volkssprache nimmt ihren Ausgang in der Dichtung der Trobadors
des 12. und 13. Jahrhunderts im Süden Frankreichs. Sie
beeinflusste vor allem die altfranzösische Lyrik im Norden, die Trouvères.
Der Name Trobador bzw. Trouvère kommt aus dem
altprovenzalischen „trobar" bzw. altfranzösischen
„trouver" für „dichten" (heute „trouver" =
„finden"). Er wird aus dem mittel lateinischen Wort
„topare" (verfassen von Tropen, erfinden von Texten und Melodien)
abgeleitet.
Überliefert ist uns die höfische Lyrik Süd- und
Nordfrankreichs in als Chansonniers bezeichneten Handschriften,
umfangreichen Sammlungen, die meist rund 100 Jahre nach dem Leben und
Wirken der Dichter/ Sänger angefertigt wurden. Diese gehen
zurück auf ältere Vorlagen, Einzelsammlungen von Autoren,
Liederhefte von Jongleurs (professionellen Spielleuten) etc.
Hervorzuheben ist, dass die mittelalterliche Lyrik keine gelesene
Dichtung war, sie war vielmehr an das Medium des gesanglichen Vortrags
gebunden. Eine außerordentliche Rolle in der Trouvère-Lyrik
spielt die formale Seite: Das Publikum erwartet formale Schönheit
durch metrische, sprachliche und musikalische Mittel. Die von uns heute
manchmal vermisste bzw. nicht erkannte Originalität dieser Lyrik
besteht in der variatio, der Darstellung ein und derselben
Thematik in immer neuer, veränderter Art und Weise. Dabei
entfaltet die Dichtung der Trouvères eine erstaunliche
Fülle an verschiedenen Gattungen, die der französische
Mediävist Pierre Bec in zwei „Register" einteilt: das registre
aristocratiant mit seiner Hauptform, der höfischen Kanzone
(„grant chant courtois"), sowie deren „Satellitengattungen"
(Bec), zu denen auch die eingespielte „Chanson de croisade"
(Kreuzzugslied) zählt, und das registre popularisant mit
den Gattungen: Tanzlied, Reverdie (Frühlingslied),
„volkstümliche Romanze" (weitere Untergliederungen: Chanson
d'histoire und Chanson de toile („bei der Näharbeit
gesungen"), Chanson de mal-mariée (Eine junge Frau wurde meist
gegen ihren Willen mit einem alten, hässlichen, oft
gewalttätigen, aber vielleicht reichen Mann verheiratet. Sie
rächt sich, indem sie sich einen jungen Liebhaber sucht),
Pastourelle (Ein Ritter begegnet einer jungen, hübschen
Schäferin und „ergreift Verführungsmaßnahmen".
Der Ausgang der Geschichte lässt eine große Variationsbreite
zu.) und Frauenlied/Frauenklage (Das lyrische „Ich" ist eine
Frau, oft mit einer der genannten Gattungen, auch aus dem
„aristokratischen" Register kombiniert.)
Neben der volkssprachlichen Lyrik war im Mittelalter seit jeher
Dichtung in lateinischer Sprache „international" im gesamten
abendländischen Raum neben den verschiedenen „nationalen"
Literaturen verbreitet. Um diese Parallelität bzw. die Bedeutung
der lateinischen Dichtung zu unterstreichen, ist in dieser Einspielung
auch die „Vatersprache des Mittelalters" (Wolfram von den
Steinen) mit drei Liebesliedern vertreten.
Die hier vorliegende Auswahl von Liedern der Trouvères wurde
unter folgendem Gesichtspunkt zusammengestellt: Es interessierten uns
Lieder, die nicht Gefühle schildern, sondern Geschichten
erzählen, Geschichten freilich, in denen Gefühle eine
wesentliche Rolle spielen. So ist die höfische Kanzone nur mit
einem Beispiel vertreten; dagegen kommen hauptsächlich Gattungen
des „populären Registers" zu Wort. Gemeinsam ist diesen ihre
volkstümliche Provenienz und vielleicht daher rührend ihr
subjektiv erzählender Grundcharakter. Gerade dieser
„persönliche" Zug, den wir in den Liedern zu finden meinen,
war uns eine Hilfe bei der Interpretation, suggerierte uns eine gewisse
Nähe, schien uns eine Brücke zu schlagen über die
Jahrhunderte — von Mensch zu Mensch.
MEDIEVAL LYRIC POETRY IN NORTHERN FRANCE
by Heinz Schwamm
The origins of vernacular lyric poetry go back to the poetry of the troubadours
of the 12th and 13th centuries in southern France. lt was this poetry,
above all, which influenced Old French lyric poetry in the north
— that of the trouvères. The words themselves troubadour
and trouvère stem respectively from the Old Provencal
word "trobar" and the Old French "trouver" for "compose" (the basic
meaning today: "to find") and are derived from the Middle Latin word
"tropare", meaning "to compose tropes, to invent lyrics and melodies".
The courtly lyric poetry from southern and northern France has been
passed down to us in manuscripts called chansonniers,
comprehensive collections which were usually compiled about one hundred
years after the poet or singer lived. And these go back to even older
material, individual collections from authors, song books from jongleurs
(jugglers or professional minstrels), etc. Special mention must also be
made of the fact that medieval lyric poetry was not read; it was sung
instead. The form of trouvère lyric poetry was of particular
importance: the audience expected beauty of form through metrical,
linguistic and musical means. The originality of this poetry, which for
us today is sometimes lacking or not recognized, is provided for by the
variatio, a single theme presented in continually new and varied
ways. As a result, the poetry of the trouvères generates
a surprisingly great number of diverse forms, which have been
classified by the French medievalist Pierre Bec into two "registers":
the registre aristocratisant with its main form the courtly
canzone (the "grant chant courtois"), as well as its "satellite types"
(Bec), which the "chanson de croisade" (crusader's song) on this CD
comes under, and the registre popularisant with the following
varieties: dance music, reverdie (a spring song) "popular
romances" with the subcategories chanson d'histoire and chanson
de toile (sung while sewing), chanson de mal-mariée
(usually against her will, a young woman marries an ugly old, often
brutal man, who is however perhaps rich. She takes revenge by looking
for a young lover), pastourelle (a knight meets a pretty young
shepherdess and "undertakes seductive measures". The end of the story
allows for great variation) and woman lament's (the speaker is a woman,
a form which is often combined with one of the above-mentioned
varieties, even with forms from the "aristocratic" register.)
Aside from vernacular lyric poetry, there was also Latin poetry which,
during the Middle Ages, had always been "internationally" known
throughout the Occident alongside the various "national" varieties of
literature. To underscore the parallelism and significance of Latin
poetry, this recording also includes three love songs in the "father
tongue of the Middle Ages" (Wolfram von den Steinen).
The selection of trouvère songs presented here was chosen with
the following in mind: we are more interested in songs which describe
stories, not feelings, but in which, of course, feelings play an
important part. There is, consequently, only one example of a courtly
canzone: most of the other songs are of the "popular register" type.
What they do, however, have in common is their popular provenance and
perhaps for that reason their underlying subjective narrative
character. This "personal" element, which we felt to be inherent in the
songs, was the very thing that helped us to interpret them. For us, it
implied a certain intimacy and seemed to bridge the gap between the
centuries — from human being to human being.
MONIOT D'ARRAS (1st half of the 13th c.)
1. Ce fu en mai
A dance scene in May: the literary first-person longingly watches a
group of people who are in love dance and is comforted by them.
ANONYMOUS (13th c.)
2. En un vergier lez une fontenele
A king's daughter who is married to a repulsive old man longs for Count
Gui, her lover; she is abused by her husband, but in the end is finally
heard by God (and by Gui as well).
ANONYMOUS, from Carmina Burana (ca.1230)
3. Lucis orto sydere
In this pastourelle there is a big bad wolf who attempts to bring the
situation (for the knight) to a successful end.
ANONYMOUS (End of 12th—13th c.)
4. Por coi me bait mes maris
An ill-treated wife wants to avenge her husband: "I am going to sleep
with my boyfriend stark naked".
BLONDEL DE NESLE (ca.1150—1202)
5. L'amours dont sui espris
A courtly canzone: love without answer, vacillation between hope and
despair.
ANONYMOUS (13th c.)
6. La uitime estampie royal (instrumental)
JEHAN BODEL (1165—ca. 1210)
7. Contre le dous tans novel
This pastourelle has a conventional beginning and ends with the
shephardess cursing, in desperation, the French who have laid waste to
her village.
ANONYMOUS (12th—13th c.)
8. Jherusalem, grant damage me fais
The deeply moving lament of a young girl whose beloved was killed in
one of the wars of the Crusades.
COLIN MUSET (ca. 1200—1250)
9. Volez oïr la muse Muset
Colin Muset, a minstrel, tells about an amorous adventure in May with a
pretty virgin; he plays a song for her on his fiddle, she gives him a
kiss and even more.
JEAN ERART (d. ca.1258—59)
10. Par un tres bel jour de mai
In this pastourelle Robin, the shepherdess' boyfriend, loses out; while
he plays his bagpipes, his girlfriend and the knight have an enjoyable
time together.
ANONYMOUS (12th c.)
11. De ramis cadunt folia
After an impressive description of the chilling effects of winter on
nature, the singer tells of his fervent, unquenchable love and desire.
THIBAUT DE CHAMPAGNE (1201—1253)
12. L'autrier par la matinee
The knight in this pastourelle has no luck; when — after a long
verbal barrage — he starts becoming intimate with the
shepherdess, she calls for her boyfriend, Perin; the knight makes an
inglorious exit.
ANONYMOUS (13th c.)
13. La septime estampie royal (instrumental)
ANONYMOUS (12th—13th c.)
14. Bele Yolanz en ses chambres ses seoit
While beautiful Jolande sits in her chamber sewing, her lover enters
— her sewing for that evening is forgotten.
ANONYMOUs (12th c.)
15. Ecce letantur omnia
An ecstatic eulogy to love.
Translation: Susan Herpichböhm