Ensemble für frühe Musik Augsburg
Planctus Mariae. Spämittelalterliche Musik der Karwoche
Music of Holy Week from the Late Middle Ages




Spämittelalterliche Marienklage / Ensemble für frühe Musik Augsburg
Laments of Mary in the Late Middle Ages




medieval.org
e-f-f-m-a.de

1994: Christophorus CHR 77 147
2011: Christophorus «Entrée» CHE 0160-2








Roma, Biblioteca Vaticana, MS Urb. Lat. 1419, 15. Jh.
1. Kyrie Rondello   [3:22]
Dreistimmiger Messesatz, Italien, Anfang 15. Jh
Sänger


St. Peter in Salzburg, Michaelbeuern, Stiftbibliothek, cod. Ms. Cart. 1
2. Enmitten unsers lebens zeit - Media vita in morte sumus   [9:51]
Einstimmiges Antiphonenlied & tropierte Antiphon, Deutschland / Österreich, 15. Jh.
Sänger, Fidel, Harfe, Psalterium, Flöte


Oswald von WOLKENSTEIN (ca. 1377-1445)
Wolkenstein Handschrift B, Innsbruck, Universitätsbibliothek, ohne Sign.
3. Compassio Beate virginis Marie   [6:33]
Einstimmiges Lied
Sänger 1


Padua, Bibl. Capitolare, ms. C 56,14. Jh.
4. Planctus Mariæ Magdalenæ   [3:46]
Einstimmiges Lied, Italien, 14. Jh.
Sänger 2, Sänger 1, Fidel


aus dem Johannes-Evangelium
5. Und dann begann die Folterung   [2:12]
Sprecher


Benediktinerkloster Tegernsee, 15. Jh., München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 716
6. Planctus beatae virginis   [11:29]
Einstimmige Marienklage, Deutschland, 15. Jh
Sängerin, Fidel


Mönch von SALZBURG (Ende 14. Jh.)
Benediktinerkloster Tegernsee, 15. Jh., München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 715
7. Von unnser vrawen mitleiden   [5:03]
Sequenz «Stabat mater dolorosa» in Dt. Übersetzung, Deutschland, 15. Jh.
Sänger


Benediktinerinnenkloster Santa Maria in Valle, Cividale, um 1400, Cividale, Museo Archeologico, Ms. CI
8. Planctus Mariae et aliorum in die Parasceven   [15:24]
Benediktinerinnenkloster Santa Maria in Valle, Cividale, um 1400
Einstimmige Marienklage
Sänger, Fidel, Harfe, Psalterium





Ensemble für frühe Musik, Augsburg

Sabine Lutzenberger, Sängerin, Blockflöte
Hans Ganser 2, Sänger, Psalterium
Rainer Herpichböhm, Sänger 1, Sprecher, Gotische Harfe
Heinz Schwamm, Sänger, Fidel



Recording: 1/1994, Augsburg
Recording producer & editing: Reinhard Kiendl
Editor & layout: Joachim Berenbold
Cover picture: "Mater Dolorosa", Hans Memling, c. 1480, Galleria degli Uffizi, Florence
© 1994, 2011 MusiContact GmbH, Heidelberg, Germany



English liner notes








DIE MARIENKLAGE

Schmerz und Trauer der Gottesmutter Maria unter dem Kreuz ihres Sohnes finden ihren Ausdruck in zahlreichen mittelalterlichen «Marienklagen» (Planctus Mariæ). Diese Marienklagen erklangen meist – oft eingebettet in eines der großen Passionsspiele – in der Karwoche. Dabei ist die Intention, durch eine expressive Darstellung der Trauer Mariens beim Anblick ihres gemarterten Sohnes im Gläubigen das Mitleiden mit Maria, die «Compassio Mariæ» zu wecken und damit einen persönlichen Bezug auch zur Passion Christi herzustellen. Ähnlich wie bei zahlreichen spätmittelalterlichen Kreuzigungsdarstellungen, deren Entstehung in engem Zusammenhang mit den Passionsspielen zu sehen ist, tritt dabei das realistisch nachempfundene Leiden des Menschen Jesus und seiner Mutter in den Vordergrund gegenüber einer distanzierten theologischen Betrachtung der Passion als Weg zur Auferstehung und damit zur Erlösung der Menschheit. Es handelt sich vielmehr uni Momentaufnahmen einer zutiefst getroffenen Mutter beim Tod ihres Sohnes.

Heinz Schwamm



1. Kyrie Rondello • (Rom, Biblioteca Vaticana, Ms. Urb. Fat. 1419, 15. Jh.)
Dreistimmiger Messesatz, Italien (Anfang 15. Jh.)

Die in allen drei Stimmen stehende Bezeichnung «Rondello» bezieht sich offenbar auf den zweiteiligen Aufbau der Komposition und könnte auf einen französischen mehrstimmigen Satz (Rondeau) als Vorbild hinweisen. Allerdings ist eine derartige Kontrafakturvorlage bisher nicht nachgewiesen.


2. Enmitten unsers lebens zeit – Media vita in morte sumus
(St. Peter in Salzburg, c. 1450-1480, Michaelbeuern, Stiftbibl., cod. Ms. cart. 1)
Einstimmiges Antiphonenlied und tropierte Antiphon, Deutschland / Österreich (15.
Jh.)

Die lateinische Antiphon «Media vita in morte sumus» war seit dem 11. Jahrhundert europaweit verbreitet und erklang im Advent, während der Fastenzeit und in der Karwoche. Neben deutschen Prosaübersetzungen wurde im 15. Jahrhundert der lateinische Text zu einem deutschen Lied umgestaltet (ohne direkte Übernahme der Antiphon-Melodie). Die von uns benutzte Michaelbeurer Handschrift stammt aus St. Peter in Salzburg. Sie enthält neben dem Lied «Enmitten unsers lebens zeit» die lateinische Antiphon samt dem auch aus anderen süddeutschen Handschriften bekannten Reimtropus «Ach homo perpende fragilis».


3. Oswlad von WOLKENSTEIN (c. 1377-1445): Compassio Beate virginis Marie
(Wolkenstein Handschrift B, Innsbruck, Universitätsbibliothek, ohne Sign.)
Einstimmiges Lied

Zweimal hat sich Oswald von Wolkenstein in seinen Liedern mit dem Passionsgeschehen auseinandergesetzt: Eine umfangreiche «Passio domini Jesu Christi», die in Handschrift B auf das Jahr 1436 datiert ist und als letzter Nachtrag noch Eingang in die früher entstandene Handschrift A fand. Im gleichen Jahr (und damit sind beide Lieder zu den späteren Werken Oswalds zu rechnen) entstand die «Compassio Beate virginis Marie» (sie fehlt in Handschrift A), in der Oswald auf der Grundlage der vier Evangelien das «Mitleiden der seligen Jungfrau Maria» zu einem sehr persönlich geprägten Lied gestaltet.


4. Planctus Mariæ Magdalenæ • (Padua, Bibl. Capitorale, ms. C 56, 14. Jh.)
Einstimmiges Lied, Italien (14. Jh.)

Die Klage der Maria Magdalena ist Teil einer liturgischen Feier, der sogenannten «Visitatio sepulchri» (Grabbesuch der drei Marien und Dialog mit dem Engel am leeren Grab Christi), die szenisch-dramatisch aufgeführt wurde, ihren Ursprung in der Osterliturgie hatte und seit dem frühen Mittelalter über ganz Europa verbreitet war.


5. Und dann begann die Folterung • aus dem Johannes-Evangelium


6. Planctus beatae virginis • (Benediktinerkloster Tegernsee, 15. Jh., München, Bayer. Staatsbibl. cgm 716)
Einstimmige Marienklage, Deutschland (15. Jh.)

Der nach dem jetzigen Aufbewahrungsort der Handschrift als «Münchner Marienklage» bezeichnete Planctus wurde im 15. Jahrhundert vermutlich im Kloster Tegernsee aufgezeichnet (manche Forscher vermuten böhmischen Ursprung der Handschrift) und geht vielleicht auf ein Original des 13. Jahrhunderts zurück. Leiden und Tod Christi werden in einem Monolog der schmerzerfüllten Maria dargestellt, ein tröstender Bezug auf die Erlösungstat Christi fehlt. Ausgangspunkt dieser Klage wie auch anderer Marienklagen (und Passionsspiele) ist eine deutsche Nachdichtung der lateinischen – ebenfalls als Monolog Mariens konzipierten – Sequenz «Planctus ante nescia» des Gottfried von St. Viktor (Gottfried von Breteuil, ca. 1125/30 - vor 1200), die hier zu Beginn auch zitiert wird. Allerdings erhält die Fassung der «Münchner Marienklage» durch die um einen Ton tiefere Notierung (von g nach f mit b-Vorzeichnung) eine andere, modernere Tonalität. Neben der genannten wird eine weitere im frühen 13. Jahrhundert entstandene lateinische Sequenz ausschnittsweise zitiert: «Mi Johanne(s) planctum move» ist ein Versikel aus «Flete fideles animæ» – wiederum ein Monolog Mariens zu Füßen des Kreuzes.


7. Mönch von SALZBURG (Ende 14. Jh.): Von unnser vrawen mitleiden
(Benediktinerkloster Tegernsee, 15. Jh., München, Bayer. Staatsbibl. cgm 715) • Dt. Übersetzung der einstimmigen Sequenz «Stabat mater dolorosa»

Das Lied des Mönchs von Salzburg, dessen Schaffenszeit in das letzte Drittel des 14. Jahrhunderts fällt, ist eine deutsche Bearbeitung der lateinischen Strophensequenz «Stabat mater dolorosa». Diese entstand im 13. Jahrhundert in franziskanischem Umkreis, doch lassen sich Zuschreibungen an den Hl. Bonaventura (1221-1274) und Jacopone da Todi (ca. 1230-1306) nicht erhärten. Der Mönch von Salzburg hielt sich bei seiner deutschen Bearbeitung nicht nur an die vorgesehene Strophenform, sondern auch an die Melodie der lateinischen Vorlage.


8. Planctus Mariae et aliorum in die Parasceven
(Benediktinerinnenkloster Santa Maria in Valle, Cividale, um 1400, Cividale, Museo Archeologico, Ms. Cl)
Einstimmige Marienklage

Durch Einführung weiterer sprechender / singender Personen (Johannes, Maria Magdalena) entwickelten sich die dialogischen Marienklagen. Bereits im Titel ist diese Erweiterung angegeben («... et aliorum»). Zur Gottesmutter (hier: «Maria maior» genannt) treten Johannes, Maria Jacobi ( = Maria Cleophas) und Maria Magdalena. Der Text der Klage ist zum größten Teil eine Collage aus Teilen der schon bei der «Münchner Marienklage» erwähnten Sequenz «Flete fideles animae» und Entlehnungen aus anderen Stücken: Der Sequenz De compassione Beate Mariae Virginis «Qui per viam pergitis», dem Dialogus de passione Domini «O vos omnes, qui transitis» (seinerseits ein Zitat aus den Lamentationes Jeremiæ) und der Sequenz «Stabat mater dolorosa». Auffallend an der Aufzeichnung des Planctus aus Cividale ist eine Fülle von Regieanweisungen, die in kleinerer Schrift über den Melodien fast jedem Vers beigegeben sind. Die dramatische Darstellung wird beherrscht durch expressive Gestik: Grußgebärden, Verneigen, Knien, Sich-Hinwerfen, Umarmungen und eine reich abgestufte Skala von Trauer- und Klagegebärden zum Ausdruck von exzessiver Klage, Schmerz und Hilflosigkeit. Der Blick des Zuschauers wird dadurch auf das Leiden Christi und vor allem auf den Schmerz Mariens gelenkt, und so wird auch hier die «compassio» (einerseits der Mutter Maria, andererseits der ganzen anwesenden Gläubigen) wachgerufen.