Geistliche Musik der Wiener Hofkapelle Kaiser Maximilian I.
Clemencic Consort · Choralschola der Wiener Hofburgkapelle
Knaben der Chorschule der Wiener Sängerknaben


IMAGEN

medieval.org
Oehms Classics OC 340
Wiener Hofburgkapelle, Wien
junio de 2003








01 - Heinrich ISAAC. La mi la sol  (instr.)   [1:58]
02 - Kyrie eleison de apostolis I  [Buxheimer Orgelbuch]   [1:12]


03 - Heinrich ISAAC. Introitus 'Puer natus est'   [3:48]

04 - Kyrie eleison de apostolis II  [Buxheimer Orgelbuch]   [1:01]

05 - JOSQUIN. Missa 'Di dadi' - 1. Kyrie   [2:21]
06 - JOSQUIN. Missa 'Di dadi' - 2. Gloria   [6:40]

07 - Heinrich ISAAC. Alleluia 'Dies sanctificatus'   [3:09]

08- JOSQUIN. Que vous (orgel)   [2:00]

09 - JOSQUIN. Missa 'Di dadi' - 3. Credo   [8:13]

10 - Ludwig SENFL. Carmen in La (instr.)   [1:15]
11 - Hans COTTER. Preludium (orgel)   [2:50]


12 - JOSQUIN. Missa 'Di dadi' - 4. Sanctus et Benedictus   [5:14]

13- JOSQUIN. Ave Christe immolate (instr.)   [2:24]
14 - Leonhard KLEBER. Praeambulum in sol  (orgel)   [1:26]


15 - JOSQUIN. Missa 'Di dadi' - 5. Agnus Dei   [6:32]

16- JOSQUIN. Tu solus (instr.)   [4:12]


17 - Ludwig SENFL. Magnificat VI - Communio 'Beatam me dicent'   [9:37]

18- JOSQUIN. O Domine (instr.)   [1:57]

19 - Constanzo FESTA, Ludwig SENFL. Quis dabit oculis   [4:50]






Knaben der Chorschule der Wiener Sängerknaben

Choralschola der Wiener Hofburgkapelle

Clemencic Consort
William Dongois, Zink
Peter Gallaun, Renaissanceposaune
Christoph Gems, Renaissanceposaune
Renate Slepicka, Renaissanceposaune

René Clemencic, Spätgotisches Orgelpositiv & künstlerische Leitung



Producer: Dieter Oehms
Recorded June 2003, Wiener Hofburgkapelle
Recording producer: René Clemencic
Sound Engineer, Editing, Mastering: Wolgang und Elisabeth Reithofer




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Einführung

Die Zeit um 1500 ist eine Wendezeit. Janusköpfig blickt sie in Mittelalter und Neuzeit zugleich, ist Gotik und Renaissance, Ende und Neubeginn. Die Wiener Hofkapelle Kaiser Maximilians I., des „letzten Ritters“ und begeisterten Humanisten, steht im musikalischen Brennpunkt dieser Tendenzen. Ihr Repertoire spiegelt in hervorragender Weise alle wesentlichen musikalischen Zeitströmungen in künstlerischen Spitzenleistungen wider. Als Institution tritt sie im Juli 1498 in die Welt. Die bis dahin in ihrer Zusammensetzung ständig wechselnde und an keinen fixen Ort gebundene Hofkapelle beginnt sich nun, auf kaiserlichen Wunsch, zu stabilisieren. Ihr ständiger Sitz wird Wien, was keinesfalls selbstverständlich war, da Maximilian Innsbruck und auch Augsburg als Aufenthaltsorte zu bevorzugen schien.

Schon 1496 hatte Maximilian, seit 1493 Kaiser, von Pisa aus einen Teil der Kapelle samt dem hochberühmten Komponisten Heinrich Isaak nach Wien geschickt. „Wir haben Hansen Kerner, unsern obersten Caplan und Cantor mitsambt 12 Knaben und Gesellen darzue den Ysaak und sein Hausfraw gen wien verordnet“ (13. November 1496).

Am 7. Juli 1498 wird der „Huebmeister“ (eine Art Aufseher über Zinspflichtige) Hans Harasser vom Kaiser aus Freiburg im Breisgau angewiesen „daran zu sein, damit dieselben unser Singer alle tag ain ambt singen“ in Wien. Am 20. Juli ein detaillierter Erlass: „Lieber Herr Huebmeister, die Röm. K. Mt. (Römisch kaiserliche Majestät) etc. unser allergnedigster Herr, hat zu Wien ain Capellen auffzurichten furgenommen, und derselbig Capellen Herren Georgen N. zu Singmaister (…) verordnet“. Zentrum der kaiserlichen Hofkapelle war die Kantorei, das aus Knaben und Männern zusammengesetzte Vokalensemble zur Ausführung der kunstvollen, mehrstimmigen Sakralmusik. Ihnen standen Zinken- und Posaunenbläser zur Seite. Unter den ihr angehörenden Organisten ragte Maximilians Leiborganist Paul Hofhaimer hervor.

Für weltliche Feste und Unterhaltungen stand dem Kaiser eine Unzahl von Spielern auf Zupf- und Streichinstrumenten (die sich manchmal auch bei geistlichen Hochämtern hören ließen), wie auch „Pfeifern“ und „Trommelschlager“ aller Art zur Verfügung. Eine Klasse für sich bildeten die „Trummeter und Pauken“, die nicht nur im Krieg, sondern auch bei öffentlichen Anlässen, bei Turnieren, in Kirche und Palast zu hören waren. Zur Hofkapelle im eigentlichen und engeren Sinne scheinen nur die Kantorei, Zinken- und Posaunenbläser, sowie die Organisten gehört zu haben, im weiteren Sinne aber wohl alle Mitglieder der kaiserlichen Hofmusik. Trotz aller Stabilisierungsversuche blieb aber der Mitgliederstand der Kapelle weiterhin vielen Schwankungen unterworfen, was sicher auch mit des Kaisers ständigen Geldnöten zu tun hatte. Hauptsitz war nun zwar Wien, aber wenigstens ein Teil der Kapelle, oft die ganze Hofmusik, hatte den reiselustigen Kaiser bei seinen zahlreichen Unternehmungen zu begleiten. Zum ersten Kapellmeister wurde der aus Laibach stammende spätere Bischof von Wien, Georg Slatkonia, berufen. Auch er war wie Hans Kerner, bereits als Caplan und Cantor im Amte gewesen. Der gebildete und überaus organisationstüchtige Slatkonia blieb auch als Bischof weiterhin „obrister Capellmaister“ der Hofkapelle. „Nach rechter Art und Concordantz / auch Simphoney und Ordinantz / Junctur und mancher Melodey / hab Ich gemerth die Cantorey / doch nicht allain aus meim bedacht: / der Kaiser mich dartzue hat bracht.“ (Vers aus dem Triumphzug Maximilians). Hofkomponist war bis zu seinem Tod im Jahr 1517 Heinrich Isaak, dem sein Schüler Ludwig Senfl in diesem Amte nachfolgte.

Das wenigstens zum Teil rekonstruierbare Repertoire der Wiener Hofkapelle zeigt eine Dominanz niederländischer bzw. franko-flämischer Musik. Die geistlichen Werke dieser Schulen stellen einen der gewaltigsten Gipfel nicht nur abendländischer Kunst dar. Höhepunkt der Mehrstimmigkeit, glückliche Ehe nordischer Tiefe und Mystik, französischer Rationalität und Architektonik, sowie italienischer Klarheit und süßer Sinnlichkeit (dolcezza!). Die Messen und Motetten lassen sich an geistiger Größe und numerologischmystischer Konstruktion nur mit den Pyramiden und Kathedralen vergleichen.

Auf der vorliegenden CD stellen wir neben Kompositionen der maximilianischen Hofkapellmeister Heinrich Isaac und Ludwig Senfl eine Messe von Josquin Desprez vor, dem bedeutendsten Komponisten dieser Epoche, dessen Werke in keinem damaligen Repertoire fehlen durften. „Josquin … ist der noten meister, die habens müssen machen, wie er wolt; die anderen Sangmeister müssen machen, wie es die noten haben wöllen … Josquiin, des alle composition frolich, willig, milde heraus fleust … sicut des fincken gesang“ (Martin Luther). Josquin scheint gegen 1450 in nächster Umgebung seines späteren Todesortes, Conde-sur-Escaut, im heutigen Nordfrankreich geboren worden zu sein. Er stand im Dienst des René von Anjou, der Sforzas in Mailand, der päpstlichen Kapelle in Rom, der Hofkapelle des französischen Königs Ludwig XII., und schließlich des Ercole I. d‘Este in Ferrara. 1505 wird er in Conde zum Probst ernannt, wo er 1521 stirbt.

Die Würfelmesse, Missa „di dadi“, ist im dritten Buch der Messen Josquins, 1514–1516 von Petrucci in Venedig gedruckt, erstmals erschienen. Wegen des sehr sparsamen Gebrauchs der Imitation weist man dieses Werk einer früheren Schaffensperiode des Meisters zu. Durch einen fast gleichlautenden, zweistimmigen Beginn der Oberstimmen („Motto“) wird die zyklische Einheit des Ordinarium Missae unterstrichen. Darüber hinaus ist die Messe eine sogenannte cantus-firmus- Messe. Der c. f., ein in fast jedem Abschnitt der Messe melodisch wörtlich wiederholter kurzer Melodieabschnitt, durchzieht als geistiges Band das ganze Werk. Noch spätmittelalterlichem Geist entsprechend, wird dieses Wesentliche, Tragende aber in einer Mittelstimme fast verborgen. Nur die Länge der Tonwerte hebt sie aus dem „Alltag“ der polyphonen Textur heraus, hebt sie ins quasi Zeitlose, Ewige. Wie damals allgemein üblich, ist die Melodie des c. f. keine frei erfundene, sondern eine vorgegebene, bereits vorhandene: Re-ligio, Rückbindung an Gegebenes. Der c. f. entspricht dem Beginn der Tenorstimme des Chansons N‘auray je jamais mieulx des in Burgund zwischen 1457–1476 tätigen englischen Musikers Robert Morton. Die Melodie des c. f. wird bis zum ersten Agnus stets in der Tenorstimme (Tenor von tenere, Halten der Töne!) vorgetragen. Zunächst in der Kurzform, nur der Chansonbeginn, dann ab dem ersten Hosanna in der vollen Länge der Chansonmelodie. Nur im letzten Agnus wird der c. f., eine Quarte tiefer, in der Bassstimme realisiert. Ohne c. f. sind das Christe, die zwei- und dreistimmigen Teile des Gloria, sowie das Pleni sunt und das zweistimmige Benedictus und zweite Agnus. Im Kyrie tritt der c. f. im doppelten Zeitmaß des Originals auf, im Gloria im vierfachen und achtfachen, im Credo im sechsfachen, bzw. zwölffachen. Das Sanctus bis zum Pleni sunt trägt die Semibreven des Originals im fünffachen Zeitmaß vor. Die Proportionen werden im Petrucci-Druck durch Abbildungen von Würfelaugen verdeutlicht: Kyrie = 2:1, Gloria = 4:1, Credo = 6:1, Sanctus = 5:1. Daher der Name Missa „di dadi“, Würfelmesse.

Eine tiefgehende, symbolische Deutung dieser Strukturen ist Michael Long gelungen. Weltlichen Dingen, hier ein Liebeschanson und das teuflische Würfelspiel, wurde im ausgehenden Mittelalter und der Renaissance spirituelle, gleichnishafte Symbolkraft zugeschrieben. „Spiritualia sub metaphoris corporalium“ (Geistiges in sinnlichen Metaphern) nannte das Thomas von Aquin. Es geht hier um ein Spiel mit dem Teufel, um das ewige Seelenheil zu erlangen, geistigen statt weltlichen Reichtum. Alle Zahlen der Würfelaugen haben tiefere Bedeutung. Die 1 entspricht Gott, die 2 der Spaltung göttlicher Einheit, die 4 den vier Evangelien, vier Kardinaltugenden etc., die 5 den fünf Wunden Christi, die 6 den sechs Schöpfungstagen, den sechs Stufen an Salomons Thron etc. Beim Würfelspiel im damaligen Frankreich, meist zwei Spieler mit je 2 Würfeln, gewann, wer die höhere Augenzahl warf, außer einer warf „hazart“, d. h. eine Summe von 6 oder 12. Dann wurde das Spiel abgebrochen. Wer „hazart“ machte, hatte gewonnen. In der Würfelmesse ist der Spielverlauf folgender: Kyrie 1 = 2:1 (1. Spieler), Kyrie 2 = 2:1 (2. Spieler), daher unentschieden, und das Spiel geht weiter. Gloria (et in terra) = 4:1, Gloria (qui tollis) = 4:1. Das Spiel geht weiter. Credo (Patrem) = 6:1, Credo (Crucifixus) = 6:1. Wieder geht das Spiel weiter. Sanctus = 5:1, d. h. Gesamtsumme der Würfelaugen = 6. Der 1. Spieler hat gewonnen („Hazart“!), das Würfelspiel ist beendet. Ab hier erscheint das Chanson der Liebe (weltliche gleich geistlicher Liebe) in voller Länge: „ie suis vostre et le seray“, „euer bin ich, und werd ich immer sein“! Im Messritus vollzieht sich an dieser Stelle zwischen Hosanna 1 und Benedictus die heilige Wandlung. Die Vereinigung der Seele mit Gott kann beginnen. Der geistige Spieler gewinnt die Münze (in der Form der Hostie ähnlich) des ewigen Lohnes. Über die Ähnlichkeit der Hostie mit gewissen Süßigkeiten und Bäckereien hat die damalige Theologie eingehende Vergleiche angestellt. Der Waffelverkäufer der damaligen Zeit, „oblieur“, hatte allein das Recht öffentlich Würfel zu spielen. Man konnte sich so auf der Straße Waffeln erwürfeln. Der Name der noch ungeweihten Hostie war übrigens „oublie“! Eine Fülle geistiger Bezüge, die dem Menschen der damaligen Zeit meist wohl recht vertraut waren.

Das Josquinsche Ordinarium Missae, die Missa „di dadi“, ist, dem damaligen Zeitgebrauch entsprechend, mit Proprienabschnitten, Orgelstücken und instrumental interpretierten Motetten umgeben, um so ein sinnvolles Ganzes erklingen zu lassen.

Die eingefügten Propriengesänge stammen von Heinrich Isaac, seit 1497 Hofkomponist Kaiser Maximilians I. Introitus und Alleluia enstammen dem gewaltigen „Choralis constantinus“, einer Propriensammlung, die nur zum Teil für die Kathedrale von Konstanz, größtenteils aber für die Wiener Hofkapelle verfasst wurde. Zugrundeliegende gregorianische Melodiestrukturen werden im meist vierstimmigen Satz kunstvoll imitativ verarbeitet. Gelegentlich tritt die gregorianische Struktur auch fast unverändert, in langen c. f.-artigen Notenwerten auf.

Das Magnificat stammt von Ludwig Senfl, der seine musikalische Karriere als Sängerknabe an der Wiener Hofkapelle Kaiser Maximilians I. begann. Er folgte Isaac im Amt des Hofkomponisten nach. Sein Magnificat sexti toni verarbeitet die gregorianische Magnificat-Melodie kunstvoll im meist vierstimmigen Satz. Bei aller subtilen Kontrapunktik wird auch dem Deklamatorischen und renaissancehafter Klangsinnlichkeit Rechnung getragen.

Die Instrumentaleinlagen stellen instrumentale Versionen von Motetten Isaacs, Senfls und Josquins dar, wie das dem damaligen Gebrauch entspricht. Die Orgelstücke sind Intavolierungen zeitgenössischer Motetten oder eigenständige Instrumentalstücke.

Die Trauerode Quis dabit oculis wurde vom genialen Italiener Constanzo Festa, dessen Werke oft mit denen Josquins verwechselt wurden, auf den Tod der Anna von England, Gemahlin des französischen Königs Ludwig XII., komponiert. Senfl hat ihre Musik, mit kleinen, dem Anlass entsprechenden Textveränderungen, als Trauerode auf den Tod Kaiser Maximilians I. (1519) verwendet. Lange galt sie als seine Komposition.

Gesungen wurde bei dieser Produktion aus der originalen Notation der Renaissance, der weißen Mensuralnotation, die, um den Linienfluss nicht zu stören, keine Taktstriche und keine Partituranordnung kennt (siehe Abbildungen Seite 15 und 17).

René Clemencic


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