Das Glogauer Liederbuch. Lieder, Schwänke und Schwänze
Sabine Lutzenberger, Martin Hummel · Ensemble Dulce Melos, Marc Lewon


IMAGEN

Naxos 8.572576
2012





Das Glogauer Liederbuch
Lieder, Schwänke und Schwänze


Die musikalische Vergangenheit Zentraleuropas ist überreich an unbekannten Schätzen. Die Musik des „Glogauer Liederbuchs“ gehört dazu. In dieser Handschrift stehen 292 Lieder, Kirchengesänge und Instrumentalstücke, die um das Jahr 1480 einer kleinen klösterlichen Gemeinschaft in Niederschlesien zu alltäglicher Unterhaltung dienten. Oder auch zu sonntäglicher Andacht – man machte da offenbar keinen großen Unterschied. Die Sammlung selbst vermittelt eine Freude am privaten Musizieren, wie sie heute wohl selten geworden ist.

Es herrscht ein intimer Ton. Fast alle Stücke sind dreistimmig, auf drei Saiteninstrumenten oder mit Singstimmen in den Lagen SAT oder ATB ausführbar, auch transponiert und vokal-instrumental gemischt wenn nötig. Viele Stücke, vor allem die textierten Lieder, sind sehr kurz, so als ob sie nur eine Anregung für längeres Improvisieren geben sollten. Auch weitere Strophen, die in der Handschrift oft fehlen, konnten aus dem Gedächtnis gesungen werden. Die Sammlung enthält viele Vertonungen damals verbreiteter Lieder, deren bekannte Grundmelodie entweder in der Oberstimme (Discantus) oder in der mittleren Hauptstimme (Tenor) vorgetragen wird, während die anderen Stimmen Kontrapunkte, Ornamente und harmonische Begleitung ausführen. Einige Melodien kommen mehrmals vor, in verschiedenen kontrapunktischen Bearbeitungen. Die Stücke sind nicht nach Gattungen oder Funktionen geordnet oder gar nach geistlichen oder weltlichen Inhalten, sondern bunt vermischt niedergeschrieben. Man sang oder spielte sozusagen quer durch den Garten, und genoss dabei Wechsel und Wiederkehr musikalischer Gestalten.

Wichtig ist, dass das „Liederbuch“ nicht aus einem einzigen Band besteht, sondern aus drei separaten Stimmbüchern (Discantus, Tenor, Kontratenor). Das „Glogauer Liederbuch“ ist der älteste bekannte Stimmbuchsatz aus Zentraleuropa. Diese Form eines Musikbuchs diente einer kleinen Gruppe gleichberechtigter Musiker, nicht etwa einer Domkapelle oder einem höfischen Instrumentalensemble; es wurde nicht auswendig musiziert, sondern vom Stimmbuch abgelesen. Die Benutzer waren musikalische Amateure: nicht Berufsmusiker, die gewöhnlich auswendig spielten, sondern gebildete Liebhaber oder Studenten, die mensurale Notation lesen konnten. Ikonographische Belege für diese Praxis sind im 15. Jahrhundert noch sehr selten; Abbildungen nach 1500 zeigen meist gutgekleidete Herren und Damen, die sich zum Singen und Spielen bei einem „Hauskonzert“ zusammengefunden haben. Kurz nach 1500 entstanden in Italien und Süddeutschland auch die ersten Musikdrucke in Stimmbüchern.

Unsere drei Stimmbücher sind im wesentlichen von einer einzigen Hand geschrieben. Anzeichen von Sachverständnis und Sorgfalt sind die immer klare Schrift, das Vorhandensein eines genauen alphabetischen Inhaltsverzeichnisses, und die deutliche Markierung von Stückanfängen mit oft farbigen Initialen. Die musikalische Notation ist sehr kompetent. Wer war dieser Schreiber und Hersteller der Handschrift, und wer waren die ersten Benutzer?

Das „Glogauer Liederbuch“ wurde 1874 in der Königlichen Bibliothek Berlin bemerkt und erstmalig beschrieben. Später erhielt es den Namen „Glogauer Liederbuch“, weil es einen im 16. Jahrhundert geschriebenen Besitzvermerk des Doms von Glogau (Głogów) enthält. Lange hat man geglaubt, die Handschrift sei in Glogau entstanden und habe vielleicht der dortigen Lateinschule gehört. Sie war nach 1945 verschollen, tauchte aber 1977 in der Biblioteka Jagiellońska, Kraków, wieder auf, wo sie heute verwahrt wird. Eine vollständige Edition in vier Bänden und eine Faksimile-Ausgabe sind erschienen.

Schon in den 1930er Jahren wurde vermutet, dass die Handschrift mit einem bestimmten geistlichen Benutzer zusammenhängt: dem aus Grünberg (Zielona Góra) stammenden Andreas Ritter (ca. 1445-1480). Auf ihn bezieht sich nämlich eine humorvoll-satirische Motette der Handschrift (Probitate eminentem), eine Komposition des böhmischen Musikers Petrus Wilhelmi de Grudencz (geb. 1392). Zwar ist nicht auszuschließen, dass Wilhelmi die Motette auf jemand anderen schrieb und der Name Andreas Ritters erst im Text unserer Handschrift substituiert wurde, doch stimmen die ironischen Aussagen der Motette über diesen „hervorragenden Ehrenmann“ mit Ritters bekannter Biographie auffallend überein. Er soll nämlich dem Alkohol und den Frauen mindestens ebenso zugetan gewesen sein wie dem klösterlichen Leben. Ritter wirkte bis ca. 1465 an der Domschule in Glogau und wurde anschließend Kanonikus im Augustiner-Chorherrenstift Sagan (Żagań). Grünberg, Glogau und Sagan liegen nahe beieinander im Bereich der damaligen niederschlesischen Piastenherzogtümer, heute Provinzen Westpolens. Eine andere Motette der Handschrift (Sempiterna ydeitas) wurde zur Feier der Geburt eines Piastenherzogs (Jan, Sohn von Friedrich und Ludmila) im Jahre 1477 komponiert; da die Handschrift also nicht lange vor diesem Jahr begonnen worden sein kann, dürfte sie aus dem Stift Sagan selbst stammen, falls sie etwas mit Andreas Ritter zu tun hatte.

Eine entscheidende Figur scheint auch der damalige Abt des Chorherrenstifts, Martin Rinkenberg, zu sein. Er stammte aus Breslau (Wrocław) und erwarb 1441 den Magistergrad an der Universität Leipzig. Seit 1468 war er Abt von Sagan, wo seine Gelehrsamkeit und Musikliebe, gerade im privaten und weltlichen Bereich, ihn regelmäßig mit Ritter zusammengebracht haben muss. Am 4. März 1480 kam es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen den beiden, nachdem Ritter von einer Sauftour aus der Stadt zurückgekehrt und von Rinkenberg zur Rede gestellt worden war. Im Glauben, den Abt getötet zu haben, stürzte sich Ritter aus dem Fenster und starb. Rinkenberg selbst wurde 1482 vom Schlag getroffen und blieb bis an sein Lebensende (1489) halbseitig gelähmt. Die Chronik der Äbte von Sagan, deren Abschnitt über Rinkenberg von einem frömmeren Nachfolger stammt als er es war, kritisiert ihn wegen seiner weltlichen Gesinnung: Mehrstimmige Musik sei traditionell im Kloster unzulässig, und Frauen dürften den Klosterbereich schon gar nicht betreten. Im frühen 16. Jahrhundert führte der Saganer Abt Paul Lemberg in Grünberg die Reformation ein. Wir vergessen heute leicht, dass der Reformation eine Periode lockeren Klosterlebens vorausgegangen war, in der eine gebildete Elite lebensfreudigen Interessen frönte.

Endgültige Beweise, ob Ritter oder Rinkenberg Besitzer bzw. Auftraggeber der Stimmbücher waren, und wer sie eigentlich geschrieben hat, gibt es freilich bisher nicht. Doch eine von Zeitgenossen beachtete musikalische Stiftung Rinkenbergs hat darin einen Niederschlag gefunden. Denn bei dem dreistimmigen Ave regina celorum, mater regis angelorum, das entsprechend dem Stiftungstext von den Schülern der Stadtschule regelmäßig im Kloster vorgetragen werden sollte, handelt es sich um die berühmte Antiphon dieses Titels von dem Engländer Walter Frye, die in der Handschrift notiert ist.

Tatsächlich stammen die Musikstücke der „Glogauer“ Sammlung aus vielen Ländern und vermitteln einen hohen Standard europäischer Mehrstimmigkeit. Sicher wurden nicht alle in Niederschlesien komponiert. Woher kommen die importierten Kompositionen? Eine oder mehrere Vorläufer-Sammlungen, aus denen geschöpft wurde, dürften an den Universitäten von Leipzig und Kraków existiert haben, wo Rinkenberg, Ritter und vermutlich andere schlesische Musikfreunde studierten. Die etwa 66 Konkordanzen mit anderswo erhaltenen Stücken weisen nach Sachsen, Süddeutschland, Frankreich, England, Italien und den Niederlanden; ein paar textlose bzw. lateinisch textierte Lieder dürften böhmischen oder polnischen Ursprungs sein. Viele textlose Stücke, und auch manche mit so hübschen Phantasienamen wie „Pfauenschwanz“ und „Seidenschwanz“ konnten als ursprünglich vokale Kompositionen französischer Herkunft identifiziert werden. Die deutschen Texte von etwa 70 Liedern sind u.a. in Schlesien, Sachsen, Böhmen/Mähren, Nord- und Süddeutschland überliefert. Jedoch neben vielen importierten Stücken gibt es auch „Nachfolgestücke“, die diesen ähneln und die nur hier überliefert sind, also lokalen Ursprungs sein dürften. Man schöpfte aus dem internationalen Fundus und komponierte dazu Neues in ähnlichen Stilarten. Das ergab musikalische „clusters“ ähnlicher oder auf derselben Melodie beruhender Stücke. Die Anordnung der vorliegenden Einspielung in „Suiten“ verwandten Inhalts reflektiert diese Zusammengehörigkeit.





I. Das älteste geistliche Lied der Sammlung ist „Christ ist erstanden“. Die Melodie im „dorischen“ (d-)Modus war ursprünglich von der lateinischen Ostersequenz „Victimae paschali laudes“ abgeleitet. Sie ist hier in zwei Vertonungen unterschiedlich verarbeitet. Der dritte Satz mit diesem Text, der an zweiter Stelle gespielt wird (GLOG 127), verwendet eine andere Grundmelodie, die dem evangelischen Kirchenlied „In dich hab ich gehoffet, Herr“ ähnelt.

II. Die Sammlung enthält mehrere als „Schwanz“ bezeichnete Stücke, die wahrscheinlich als Tänze galten („schwanzen“ war eine Wortform für „tanzen“). „Der Rattenschwanz“ ist wohl für Instrumente bestimmt: Er hat keine Liedform, sondern besteht aus drei unterschiedlichen Abschnitten, die hintereinander weg gespielt werden. Solche aneinandergereihten Tanzabschnitte hießen puncta („Perioden“). Im zweiten Abschnitt, der zweistimmig ist, werden verschiedene Arten kanonischer Imitation erprobt. Im dritten Abschnitt breitet sich ein einfaches rhythmisches Motiv aus.

III. Der dreistimmige Satz von GLOG 237 ist wahrscheinlich französischer Herkunft. Man unterlegte der Mittelstimme das deutsche Liebeslied „O wie gern und doch entbern“; so wurde ein „Tenorlied“ daraus. Um es geistlich zu „verkleiden“ (und so im Kloster weniger Anstoß zu erregen?), schrieb man darunter noch einen Hymnus auf St. Barbara. Eine textlose Bearbeitung in unserer Handschrift(„Beth“) steht in einer nach dem hebräischen Alphabet geordneten Gruppe. Hier wird die später so genannte „äolische“ (a-)Tonart, die für viele Stücke der Handschrift typisch ist, durch imitierende Motive hervorgehoben.

IV. Ein weitbekanntes deutsches Schwanklied mit der Mahnung „Rumpel an der Türe nicht“ erhielt in den Niederlanden und Italien den abgekürzten Namen „Rompeltier“. Die Frau lässt ihrem Liebhaber ausrichten, ihr Ehemann sei nicht, wie geplant, zur Mühle gefahren, er solle also nicht kommen und an die Tür donnern! Der Liebhaber kann dementsprechend kaum anderes tun als sich „All voll“ besaufen.

V. Zartere Töne schlagen die im „dorischen“ Modus gehaltenen Morgenstern-Lieder an. In der Gattung des Tagelieds beklagen die Liebespaare das Erscheinen des Morgens, der sie trennen wird. Der Morgenstern diente in vielen Liedern zum Ausdruck allgemeiner Liebessehnsucht (wie in „Ich sach einsmals den lichten Morgensterne“) oder auch religiöser Erwartung.

VI. Diese Gruppe steht im „lydischen“ (F-)Modus. Das deutsche Strophenlied „Zu aller Zeit“ (eine sogenannte „Hofweise“) wird mit seinem vollen Text vorgetragen, der aus einer anderen Quelle ergänzt ist. Das wunderbare Rondeau „Helas, que pourra devenir“ des Nordfranzosen Firminus Caron ist in der Handschrift mit dem hübschen Phantasienamen „Seidenschwanz“ ausgezeichnet, als eines der „Schwanz“ genannten Tanzstücke. Es erhielt dazu noch den Text eines Marienhymnus. Das Stück ist bei genauem Hinsehen oder –hören ein unglaubliches Puzzle aus Imitationen im engsten Stimmabstand.

VII. „Elende du hast umfangen mich“ ist textlich ebenfalls eine Hofweise, deren Melodie aber auch mit französischem Text („Vive, madame, par amours“) bekannt war; zudem gab es mehrere verschiedene Stücke unter dem allgemeinen Titel „Elend“ – was sich auf den in der Ferne (im „Ausland“) weilenden Liebenden bezieht.

VIII. Das berühmteste Lied des mittleren 15. Jahrhunderts war ohne Zweifel Leonardo Giustinianis italienische ballata „O rosa bella“, allerdings in der Vertonung des Engländers John Bedyngham (ca. 1440). Jahrzehntelang hat man an dem Stück mit vokalen und instrumentalen Bearbeitungen herumgebastelt. In unserer Handschrift erscheinen gleich vier Quodlibets (Potpourris) über die Hauptmelodie, die insgesamt vierzig weitere bekannte Melodien wie einen Blumengarten um sie herumgruppieren.

IX. Der Text der Hofweise „Ich bins erfreut“ ist in einer anderen Quelle „Anno 67“ datiert. Das schöne vierstimmige Stück im „lydischen“ Modus scheint jedoch wieder einmal eine französische Chanson zu sein, nach der Form zu urteilen. Aus dem deutschen Sprachraum stammt hingegen das Tenorlied „Die libe ist schön“ (weiterer Text unbekannt), in einer stolligen AAB-Form.

X. Stücke mit dem Namen „Pfauenschwanz“ gab es seinerzeit mehrere. In unserer Handschrift stehen zwei: der vermutliche Ahnherr der gesamten „Schwanz“-Familie, eine vierstimmige Komposition des Franzosen Barbingant (Vorname unbekannt, ca. 1460). Dieselbe Tenormelodie wird ganz anders bearbeitet von dem Niederländer Paulus de Broda (eigentlich de Rhoda). Beide Stücke sind jedoch ausgeschriebene instrumentale Improvisationen über eine Tanzmelodie.

XI. In dieser „lydischen“ Gruppe hören wir einen damaligen Schlager, das Tenorlied „In Feuers Hitz so brennet mein Herz“. Die Worte sind in einer mitteldeutschen Quelle zu einer geistlichen Komposition Heinrich Isaacs als Alternativtext eingetragen; daneben steht am Rand die Zeichnung eines Mönchs mit einer Frau am Arm. Der vierstimmige Satz unserer Handschrift hat auch ein lateinisches Mariengebet als geistliche Verkleidung („Kontrafaktur“) erhalten. Das Stück mit dem Liedtext „Ach reine zart“ erscheint wie eine – sehr gekonnte – Improvisation über „In Feuers Hitz“.

XII. Das französische Rondeau „Entrepris suis“ des Italiener Bartholomeus Bruolo ist wahrscheinlich die älteste mehrstimmige Komposition der Handschrift (ca. 1430). Niemand weiß genau, warum das (umfangreiche) Stück allerorten beliebt war – wahrscheinlich aber, weil die imitative Satztechnik und die ziselierte Ornamentik etwas echt Geniales haben. Der Komponist ist nicht weiter bekannt.

XIII. Diese beiden „dorischen“ Lieder ranken sich um Frauennamen. „Lætare Germania“ ist eine Versantiphon auf die Hl. Elisabeth, Schutzpatronin Deutschlands, in einer sanglich gesetzten Choralmelodie. „Elslein, liebstes Elselein“ ist ein volkstümliches Dialoglied zwischen zwei „durch tiefe Wasser getrennte“ Liebenden.

XIV. Hier sind im „mixolydischen“ (G-)Modus zwei Schwanklieder geläufigster Thematik vereint. „Auf rief ein hübsches Fräuelein“ ist ein echtes Reigenlied, in auffallendem Dreierrhythmus und mit dem typischen Ruf „Hoiho“, der ursprünglich ein zur Tanzregie gehörendes Signal war. „Zenner, greiner“ gehört zu den verbreiteten Spottliedern auf den gehörnten Ehemann, der der Untreue seiner Frau hinterher „greint“.

XV. „Groß Sehnen“ war damals ein Standardtitel für Dutzende von Stücken, denen verschiedene Melodien zu Grunde lagen. Die hier gewählte Komposition basiert auf dem berühmten anonymen Rondeau „J’ay pris amours a ma devise“: Die zwei Oberstimmen des Originals werden als Unterstimmen (Tenor und Bass) verwendet, während anstelle der ursprünglichen Tiefstimme eine neue Oberstimme hinzugefügt ist. „Die Welt“ ist eine volkstümliche Ballade, von der leider nur die erste Strophe bekannt zu sein scheint.

XVI. Auch der „jonische“ (C-)Modus kommt in der Sammlung vor, obwohl auch dieser Begriff erst später geprägt wurde. „Die Katzenpfote“ – ein Name, der die „Schwanz“namen bereits voraussetzen dürfte – ist ein ingeniös komponiertes Instrumentalstück mit unzähligen Kurzimitationen und Sequenzen. Das titellose Stück (GLOG 100) ist eine in mehrere puncta gegliederte Komposition mit liedartiger Oberstimme, aber nicht in Liedform: vergleichbar der instrumentalen fantasia, wie sie damals schon in Italien gepflegt wurde.

XVII. Die Leise „Nu bitten wir den heiligen Geist“ stammt aus dem 13. Jahrhundert. Die Vertonung legt die alte Melodie relativ unverziert in die Oberstimme, wie bei anderen geistlichen Gesängen unserer Sammlung, und begleitet sie mit bewegteren Unterstimmen. Das abschließende „Kyrieleis“ ist im Dreierrhythmus reich ausgearbeitet. Der Innigkeit dieses Pilgerliedes hatte auch Martin Luther nichts hinzuzufügen, außer dass er drei weitere schöne Strophen hinzudichtete.

XVIII. „Der Vöglein Art“ ist eine Hofweise mit drei langen Strophen (aus anderer Quelle hier ergänzt), im „mixolydischen“ Modus. Wegen der engen Bindung zwischen musikalischem und textlichem Rhythmus ist vorstellbar, dass das Lied mehrstimmig komponiert wurde, also nicht auf einer vorher bekannten Grundmelodie aufbaut.

XIX. Als man in Sagan keine „Schwänze“ mehr als Namen für Unterhaltungsmusik übrig hatte, musste man sich neuartige Phantasienamen einfallen lassen, darunter die „Katzenpfote“ und die „Eselskrone“, womit man potentiell im Reich des Spottes angekommen war. Die beiden Stücke sind im gleichen imitierenden Stil geschrieben, der blitzsauberes Zusammenspiel erfordert.

XX. Drei Lieder im „dorischen Modus“ beschließen unsere Auswahl. „Tärste ich“ und „Ach Gott, wie sehr“ handeln von Liebessehnsucht; ersteres hat stollige AAB-Form und mag auf einer präexistenten Grundmelodie beruhen – die sehr an die Unterstimme von „J’ay pris amours“ gemahnt. „Ach Gott“ könnte eine Originalkomposition auf diesen Text darstellen. „Der Wächter an der Zinnen“ (weiterer Text unbekannt) ist sicher ein Tagelied, vielleicht auf eine volkstümliche Melodie. Die diminutive Form der letzten beiden Lieder regt zum Weiterspinnen, Ornamentieren und Improvisieren an.

Reinhard Strohm

Unser herzlicher Dank geht an Jane Achtman, die ihre Renaissancegambe
(gebaut von Robert Foster, 2001) für die Aufnahme zur Verfügung stellte.


Diese Aufnahme ist dem Andenken von Dietrich Schmidtke gewidmet (†),
einem Kenner und Liebhaber früher deutscher Literatur und des Glogauer Liederbuches.