Naxos 8.572576
2012
Das Glogauer
Liederbuch
Lieder,
Schwänke und Schwänze
Die musikalische Vergangenheit Zentraleuropas ist überreich an
unbekannten Schätzen. Die Musik des „Glogauer
Liederbuchs“ gehört dazu. In dieser Handschrift stehen
292 Lieder, Kirchengesänge und Instrumentalstücke, die um das
Jahr 1480 einer kleinen klösterlichen Gemeinschaft in
Niederschlesien zu alltäglicher Unterhaltung dienten. Oder auch zu
sonntäglicher Andacht – man machte da offenbar keinen
großen Unterschied. Die Sammlung selbst vermittelt eine Freude am
privaten Musizieren, wie sie heute wohl selten geworden ist.
Es herrscht ein intimer Ton. Fast alle Stücke sind dreistimmig,
auf drei Saiteninstrumenten oder mit Singstimmen in den Lagen SAT oder
ATB ausführbar, auch transponiert und vokal-instrumental gemischt
wenn nötig. Viele Stücke, vor allem die textierten Lieder,
sind sehr kurz, so als ob sie nur eine Anregung für längeres
Improvisieren geben sollten. Auch weitere Strophen, die in der
Handschrift oft fehlen, konnten aus dem Gedächtnis gesungen
werden. Die Sammlung enthält viele Vertonungen damals verbreiteter
Lieder, deren bekannte Grundmelodie entweder in der Oberstimme
(Discantus) oder in der mittleren Hauptstimme (Tenor) vorgetragen wird,
während die anderen Stimmen Kontrapunkte, Ornamente und
harmonische Begleitung ausführen. Einige Melodien kommen mehrmals
vor, in verschiedenen kontrapunktischen Bearbeitungen. Die Stücke
sind nicht nach Gattungen oder Funktionen geordnet oder gar nach
geistlichen oder weltlichen Inhalten, sondern bunt vermischt
niedergeschrieben. Man sang oder spielte sozusagen quer durch den
Garten, und genoss dabei Wechsel und Wiederkehr musikalischer Gestalten.
Wichtig ist, dass das „Liederbuch“ nicht aus einem
einzigen Band besteht, sondern aus drei separaten Stimmbüchern
(Discantus, Tenor, Kontratenor). Das „Glogauer
Liederbuch“ ist der älteste bekannte Stimmbuchsatz aus
Zentraleuropa. Diese Form eines Musikbuchs diente einer kleinen Gruppe
gleichberechtigter Musiker, nicht etwa einer Domkapelle oder einem
höfischen Instrumentalensemble; es wurde nicht auswendig
musiziert, sondern vom Stimmbuch abgelesen. Die Benutzer waren
musikalische Amateure: nicht Berufsmusiker, die gewöhnlich
auswendig spielten, sondern gebildete Liebhaber oder Studenten, die
mensurale Notation lesen konnten. Ikonographische Belege für diese
Praxis sind im 15. Jahrhundert noch sehr selten; Abbildungen nach 1500
zeigen meist gutgekleidete Herren und Damen, die sich zum Singen und
Spielen bei einem „Hauskonzert“ zusammengefunden haben.
Kurz nach 1500 entstanden in Italien und Süddeutschland auch die
ersten Musikdrucke in Stimmbüchern.
Unsere drei Stimmbücher sind im wesentlichen von einer einzigen
Hand geschrieben. Anzeichen von Sachverständnis und Sorgfalt sind
die immer klare Schrift, das Vorhandensein eines genauen alphabetischen
Inhaltsverzeichnisses, und die deutliche Markierung von
Stückanfängen mit oft farbigen Initialen. Die musikalische
Notation ist sehr kompetent. Wer war dieser Schreiber und Hersteller
der Handschrift, und wer waren die ersten Benutzer?
Das „Glogauer Liederbuch“ wurde 1874 in der
Königlichen Bibliothek Berlin bemerkt und erstmalig beschrieben.
Später erhielt es den Namen „Glogauer Liederbuch“,
weil es einen im 16. Jahrhundert geschriebenen Besitzvermerk des Doms
von Glogau (Głogów) enthält. Lange hat man geglaubt, die
Handschrift sei in Glogau entstanden und habe vielleicht der dortigen
Lateinschule gehört. Sie war nach 1945 verschollen, tauchte aber
1977 in der Biblioteka Jagiellońska, Kraków, wieder auf, wo sie
heute verwahrt wird. Eine vollständige Edition in vier Bänden
und eine Faksimile-Ausgabe sind erschienen.
Schon in den 1930er Jahren wurde vermutet, dass die Handschrift mit
einem bestimmten geistlichen Benutzer zusammenhängt: dem aus
Grünberg (Zielona Góra) stammenden Andreas Ritter (ca.
1445-1480). Auf ihn bezieht sich nämlich eine humorvoll-satirische
Motette der Handschrift (Probitate eminentem), eine Komposition
des böhmischen Musikers Petrus Wilhelmi de Grudencz (geb. 1392).
Zwar ist nicht auszuschließen, dass Wilhelmi die Motette auf
jemand anderen schrieb und der Name Andreas Ritters erst im Text
unserer Handschrift substituiert wurde, doch stimmen die ironischen
Aussagen der Motette über diesen „hervorragenden
Ehrenmann“ mit Ritters bekannter Biographie auffallend
überein. Er soll nämlich dem Alkohol und den Frauen
mindestens ebenso zugetan gewesen sein wie dem klösterlichen
Leben. Ritter wirkte bis ca. 1465 an der Domschule in Glogau und wurde
anschließend Kanonikus im Augustiner-Chorherrenstift Sagan
(Żagań). Grünberg, Glogau und Sagan liegen nahe beieinander im
Bereich der damaligen niederschlesischen Piastenherzogtümer, heute
Provinzen Westpolens. Eine andere Motette der Handschrift (Sempiterna
ydeitas) wurde zur Feier der Geburt eines Piastenherzogs (Jan, Sohn
von Friedrich und Ludmila) im Jahre 1477 komponiert; da die Handschrift
also nicht lange vor diesem Jahr begonnen worden sein kann, dürfte
sie aus dem Stift Sagan selbst stammen, falls sie etwas mit Andreas
Ritter zu tun hatte.
Eine entscheidende Figur scheint auch der damalige Abt des
Chorherrenstifts, Martin Rinkenberg, zu sein. Er stammte aus Breslau
(Wrocław) und erwarb 1441 den Magistergrad an der Universität
Leipzig. Seit 1468 war er Abt von Sagan, wo seine Gelehrsamkeit und
Musikliebe, gerade im privaten und weltlichen Bereich, ihn
regelmäßig mit Ritter zusammengebracht haben muss. Am 4.
März 1480 kam es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung
zwischen den beiden, nachdem Ritter von einer Sauftour aus der Stadt
zurückgekehrt und von Rinkenberg zur Rede gestellt worden war. Im
Glauben, den Abt getötet zu haben, stürzte sich Ritter aus
dem Fenster und starb. Rinkenberg selbst wurde 1482 vom Schlag
getroffen und blieb bis an sein Lebensende (1489) halbseitig
gelähmt. Die Chronik der Äbte von Sagan, deren Abschnitt
über Rinkenberg von einem frömmeren Nachfolger stammt als er
es war, kritisiert ihn wegen seiner weltlichen Gesinnung: Mehrstimmige
Musik sei traditionell im Kloster unzulässig, und Frauen
dürften den Klosterbereich schon gar nicht betreten. Im
frühen 16. Jahrhundert führte der Saganer Abt Paul Lemberg in
Grünberg die Reformation ein. Wir vergessen heute leicht, dass der
Reformation eine Periode lockeren Klosterlebens vorausgegangen war, in
der eine gebildete Elite lebensfreudigen Interessen frönte.
Endgültige Beweise, ob Ritter oder Rinkenberg Besitzer bzw.
Auftraggeber der Stimmbücher waren, und wer sie eigentlich
geschrieben hat, gibt es freilich bisher nicht. Doch eine von
Zeitgenossen beachtete musikalische Stiftung Rinkenbergs hat darin
einen Niederschlag gefunden. Denn bei dem dreistimmigen Ave regina
celorum, mater regis angelorum, das entsprechend dem Stiftungstext
von den Schülern der Stadtschule regelmäßig im Kloster
vorgetragen werden sollte, handelt es sich um die berühmte
Antiphon dieses Titels von dem Engländer Walter Frye, die in der
Handschrift notiert ist.
Tatsächlich stammen die Musikstücke der „Glogauer“
Sammlung aus vielen Ländern und vermitteln einen hohen Standard
europäischer Mehrstimmigkeit. Sicher wurden nicht alle in
Niederschlesien komponiert. Woher kommen die importierten
Kompositionen? Eine oder mehrere Vorläufer-Sammlungen, aus denen
geschöpft wurde, dürften an den Universitäten von
Leipzig und Kraków existiert haben, wo Rinkenberg, Ritter und
vermutlich andere schlesische Musikfreunde studierten. Die etwa 66
Konkordanzen mit anderswo erhaltenen Stücken weisen nach Sachsen,
Süddeutschland, Frankreich, England, Italien und den Niederlanden;
ein paar textlose bzw. lateinisch textierte Lieder dürften
böhmischen oder polnischen Ursprungs sein. Viele textlose
Stücke, und auch manche mit so hübschen Phantasienamen wie „Pfauenschwanz“
und „Seidenschwanz“ konnten als ursprünglich
vokale Kompositionen französischer Herkunft identifiziert werden.
Die deutschen Texte von etwa 70 Liedern sind u.a. in Schlesien,
Sachsen, Böhmen/Mähren, Nord- und Süddeutschland
überliefert. Jedoch neben vielen importierten Stücken gibt es
auch „Nachfolgestücke“, die diesen ähneln und die
nur hier überliefert sind, also lokalen Ursprungs sein
dürften. Man schöpfte aus dem internationalen Fundus und
komponierte dazu Neues in ähnlichen Stilarten. Das ergab
musikalische „clusters“ ähnlicher oder auf derselben
Melodie beruhender Stücke. Die Anordnung der vorliegenden
Einspielung in „Suiten“ verwandten Inhalts reflektiert
diese Zusammengehörigkeit.
I. Das älteste geistliche Lied der Sammlung ist „Christ
ist erstanden“. Die Melodie im „dorischen“
(d-)Modus war ursprünglich von der lateinischen Ostersequenz „Victimae
paschali laudes“ abgeleitet. Sie ist hier in zwei Vertonungen
unterschiedlich verarbeitet. Der dritte Satz mit diesem Text, der an
zweiter Stelle gespielt wird (GLOG 127), verwendet eine andere
Grundmelodie, die dem evangelischen Kirchenlied „In dich hab
ich gehoffet, Herr“ ähnelt.
II. Die Sammlung enthält mehrere als „Schwanz“
bezeichnete Stücke, die wahrscheinlich als Tänze
galten („schwanzen“ war eine Wortform für
„tanzen“). „Der Rattenschwanz“ ist wohl
für Instrumente bestimmt: Er hat keine Liedform, sondern besteht
aus drei unterschiedlichen Abschnitten, die hintereinander weg gespielt
werden. Solche aneinandergereihten Tanzabschnitte hießen puncta
(„Perioden“). Im zweiten Abschnitt, der zweistimmig ist,
werden verschiedene Arten kanonischer Imitation erprobt. Im dritten
Abschnitt breitet sich ein einfaches rhythmisches Motiv aus.
III. Der dreistimmige Satz von GLOG 237 ist wahrscheinlich
französischer Herkunft. Man unterlegte der Mittelstimme das
deutsche Liebeslied „O wie gern und doch entbern“;
so wurde ein „Tenorlied“ daraus. Um es geistlich zu
„verkleiden“ (und so im Kloster weniger Anstoß zu
erregen?), schrieb man darunter noch einen Hymnus auf St. Barbara. Eine
textlose Bearbeitung in unserer Handschrift(„Beth“)
steht in einer nach dem hebräischen Alphabet geordneten Gruppe.
Hier wird die später so genannte „äolische“
(a-)Tonart, die für viele Stücke der Handschrift typisch ist,
durch imitierende Motive hervorgehoben.
IV. Ein weitbekanntes deutsches Schwanklied mit der Mahnung „Rumpel
an der Türe nicht“ erhielt in den Niederlanden und
Italien den abgekürzten Namen „Rompeltier“.
Die Frau lässt ihrem Liebhaber ausrichten, ihr Ehemann sei nicht,
wie geplant, zur Mühle gefahren, er solle also nicht kommen und an
die Tür donnern! Der Liebhaber kann dementsprechend kaum anderes
tun als sich „All voll“ besaufen.
V. Zartere Töne schlagen die im „dorischen“ Modus
gehaltenen Morgenstern-Lieder an. In der Gattung des Tagelieds
beklagen die Liebespaare das Erscheinen des Morgens, der sie trennen
wird. Der Morgenstern diente in vielen Liedern zum Ausdruck allgemeiner
Liebessehnsucht (wie in „Ich sach einsmals den lichten
Morgensterne“) oder auch religiöser Erwartung.
VI. Diese Gruppe steht im „lydischen“ (F-)Modus. Das
deutsche Strophenlied „Zu aller Zeit“ (eine
sogenannte „Hofweise“) wird mit seinem vollen Text
vorgetragen, der aus einer anderen Quelle ergänzt ist. Das
wunderbare Rondeau „Helas, que pourra devenir“ des
Nordfranzosen Firminus Caron ist in der Handschrift mit dem
hübschen Phantasienamen „Seidenschwanz“
ausgezeichnet, als eines der „Schwanz“ genannten
Tanzstücke. Es erhielt dazu noch den Text eines Marienhymnus. Das
Stück ist bei genauem Hinsehen oder –hören ein
unglaubliches Puzzle aus Imitationen im engsten Stimmabstand.
VII. „Elende du hast umfangen mich“ ist textlich
ebenfalls eine Hofweise, deren Melodie aber auch mit französischem
Text („Vive, madame, par amours“) bekannt war; zudem
gab es mehrere verschiedene Stücke unter dem allgemeinen Titel „Elend“
– was sich auf den in der Ferne (im „Ausland“)
weilenden Liebenden bezieht.
VIII. Das berühmteste Lied des mittleren 15. Jahrhunderts war ohne
Zweifel Leonardo Giustinianis italienische ballata „O rosa
bella“, allerdings in der Vertonung des Engländers John
Bedyngham (ca. 1440). Jahrzehntelang hat man an dem Stück mit
vokalen und instrumentalen Bearbeitungen herumgebastelt. In unserer
Handschrift erscheinen gleich vier Quodlibets (Potpourris) über
die Hauptmelodie, die insgesamt vierzig weitere bekannte Melodien wie
einen Blumengarten um sie herumgruppieren.
IX. Der Text der Hofweise „Ich bins erfreut“ ist in
einer anderen Quelle „Anno 67“ datiert. Das
schöne vierstimmige Stück im „lydischen“ Modus
scheint jedoch wieder einmal eine französische Chanson zu sein,
nach der Form zu urteilen. Aus dem deutschen Sprachraum stammt hingegen
das Tenorlied „Die libe ist schön“ (weiterer
Text unbekannt), in einer stolligen AAB-Form.
X. Stücke mit dem Namen „Pfauenschwanz“ gab es
seinerzeit mehrere. In unserer Handschrift stehen zwei: der vermutliche
Ahnherr der gesamten „Schwanz“-Familie, eine
vierstimmige Komposition des Franzosen Barbingant (Vorname unbekannt,
ca. 1460). Dieselbe Tenormelodie wird ganz anders bearbeitet von dem
Niederländer Paulus de Broda (eigentlich de Rhoda). Beide
Stücke sind jedoch ausgeschriebene instrumentale Improvisationen
über eine Tanzmelodie.
XI. In dieser „lydischen“ Gruppe hören wir einen
damaligen Schlager, das Tenorlied „In Feuers Hitz so brennet
mein Herz“. Die Worte sind in einer mitteldeutschen Quelle zu
einer geistlichen Komposition Heinrich Isaacs als Alternativtext
eingetragen; daneben steht am Rand die Zeichnung eines Mönchs mit
einer Frau am Arm. Der vierstimmige Satz unserer Handschrift hat auch
ein lateinisches Mariengebet als geistliche Verkleidung
(„Kontrafaktur“) erhalten. Das Stück mit dem Liedtext „Ach
reine zart“ erscheint wie eine – sehr gekonnte –
Improvisation über „In Feuers Hitz“.
XII. Das französische Rondeau „Entrepris suis“
des Italiener Bartholomeus Bruolo ist wahrscheinlich die älteste
mehrstimmige Komposition der Handschrift (ca. 1430). Niemand weiß
genau, warum das (umfangreiche) Stück allerorten beliebt war
– wahrscheinlich aber, weil die imitative Satztechnik und die
ziselierte Ornamentik etwas echt Geniales haben. Der Komponist ist
nicht weiter bekannt.
XIII. Diese beiden „dorischen“ Lieder ranken sich um
Frauennamen. „Lætare Germania“ ist eine Versantiphon
auf die Hl. Elisabeth, Schutzpatronin Deutschlands, in einer sanglich
gesetzten Choralmelodie. „Elslein, liebstes Elselein“
ist ein volkstümliches Dialoglied zwischen zwei „durch tiefe
Wasser getrennte“ Liebenden.
XIV. Hier sind im „mixolydischen“ (G-)Modus zwei
Schwanklieder geläufigster Thematik vereint. „Auf rief
ein hübsches Fräuelein“ ist ein echtes Reigenlied,
in auffallendem Dreierrhythmus und mit dem typischen Ruf „Hoiho“,
der ursprünglich ein zur Tanzregie gehörendes Signal war. „Zenner,
greiner“ gehört zu den verbreiteten Spottliedern auf den
gehörnten Ehemann, der der Untreue seiner Frau hinterher
„greint“.
XV. „Groß Sehnen“ war damals ein
Standardtitel für Dutzende von Stücken, denen verschiedene
Melodien zu Grunde lagen. Die hier gewählte Komposition basiert
auf dem berühmten anonymen Rondeau „J’ay pris
amours a ma devise“: Die zwei Oberstimmen des Originals
werden als Unterstimmen (Tenor und Bass) verwendet, während
anstelle der ursprünglichen Tiefstimme eine neue Oberstimme
hinzugefügt ist. „Die Welt“ ist eine
volkstümliche Ballade, von der leider nur die erste Strophe
bekannt zu sein scheint.
XVI. Auch der „jonische“ (C-)Modus kommt in der Sammlung
vor, obwohl auch dieser Begriff erst später geprägt wurde. „Die
Katzenpfote“ – ein Name, der die
„Schwanz“namen bereits voraussetzen dürfte – ist
ein ingeniös komponiertes Instrumentalstück mit
unzähligen Kurzimitationen und Sequenzen. Das titellose Stück
(GLOG 100) ist eine in mehrere puncta gegliederte
Komposition mit liedartiger Oberstimme, aber nicht in Liedform:
vergleichbar der instrumentalen fantasia, wie sie damals schon
in Italien gepflegt wurde.
XVII. Die Leise „Nu bitten wir den heiligen Geist“
stammt aus dem 13. Jahrhundert. Die Vertonung legt die alte Melodie
relativ unverziert in die Oberstimme, wie bei anderen geistlichen
Gesängen unserer Sammlung, und begleitet sie mit bewegteren
Unterstimmen. Das abschließende „Kyrieleis“
ist im Dreierrhythmus reich ausgearbeitet. Der Innigkeit dieses
Pilgerliedes hatte auch Martin Luther nichts hinzuzufügen,
außer dass er drei weitere schöne Strophen hinzudichtete.
XVIII. „Der Vöglein Art“ ist eine Hofweise mit
drei langen Strophen (aus anderer Quelle hier ergänzt), im
„mixolydischen“ Modus. Wegen der engen Bindung zwischen
musikalischem und textlichem Rhythmus ist vorstellbar, dass das Lied
mehrstimmig komponiert wurde, also nicht auf einer vorher bekannten
Grundmelodie aufbaut.
XIX. Als man in Sagan keine „Schwänze“ mehr
als Namen für Unterhaltungsmusik übrig hatte, musste man sich
neuartige Phantasienamen einfallen lassen, darunter die „Katzenpfote“
und die „Eselskrone“, womit man potentiell im Reich
des Spottes angekommen war. Die beiden Stücke sind im gleichen
imitierenden Stil geschrieben, der blitzsauberes Zusammenspiel
erfordert.
XX. Drei Lieder im „dorischen Modus“ beschließen
unsere Auswahl. „Tärste ich“ und „Ach
Gott, wie sehr“ handeln von Liebessehnsucht; ersteres hat
stollige AAB-Form und mag auf einer präexistenten Grundmelodie
beruhen – die sehr an die Unterstimme von „J’ay
pris amours“ gemahnt. „Ach Gott“
könnte eine Originalkomposition auf diesen Text darstellen. „Der
Wächter an der Zinnen“ (weiterer Text unbekannt) ist
sicher ein Tagelied, vielleicht auf eine volkstümliche Melodie.
Die diminutive Form der letzten beiden Lieder regt zum Weiterspinnen,
Ornamentieren und Improvisieren an.
Reinhard Strohm
Unser herzlicher Dank geht an Jane Achtman, die
ihre Renaissancegambe
(gebaut von Robert Foster, 2001) für die Aufnahme zur
Verfügung stellte.
Diese Aufnahme ist dem Andenken von Dietrich Schmidtke gewidmet
(†),
einem Kenner und Liebhaber früher deutscher Literatur und des
Glogauer Liederbuches.