À LA RECHERCHE DU SON PERDU
Zu den besonders irritierenden Phänomenen
spätmittelalterlicher Musik gehört die merkwürdige
Differenz zwischen den vielfachen Belegen für eine reiche
Instrumentalmusikpraxis in Text- und Bildquellen einerseits, und dem
fast vollständigen Ausfall an praktischen Quellen für die
gespielte Musik andererseits. Dabei setzte die Verschriftlichung von
Instrumentalmusik bereits früh ein, wie vereinzelte Aufzeichnungen
aus dem späten 13. und 14. Jahrhundert, z. B. die Estampien des
Pariser Manuscrit du Roi, der englische Robertsbridge Codex
oder ein italienisches Fragment für Tasteninstrumente in Padua,
belegen. Es entwickelte sich sogar eine eigene Notationsform, die heute
als »Orgeltabulatur« bezeichnet wird, und mit der
mehrstimmige Musik scheinbar sinnfällig nach rechter und linker
Hand eines Tasteninstrumentenspielers getrennt aufgezeichnet wurde.
Solche Aufzeichnungen sind beispielsweise in einem Schreiben von
König Juan d'Aragon an den burgundischen Hof im Jahre 1388
erwähnt, in welchem er darum bittet, ihm einen Musiker mit Namen
»Johan dels orguens« zu überlassen. Dieser solle aber
unbedingt auch »das Buch, in dem Estampien und andere ihm
bekannte Werke für exaquier und Orgel notiert sind«
– also offenbar explizit für Tasteninstrumente
aufgezeichnete Musik – mitbringen. Die erhaltenen Quellen mit
solcherart notierter Musik vor 1500 lassen sich allerdings an einer
Hand aufzählen: neben einigen wenigen Fragmenten und verstreuten
Aufzeichnungen sind vor allem der Codex Faenza, die Tabulatur
des Adam Ileborgh, das Buxheimer Orgelbuch und der
Orgelbuchteil des Lochamer Liederbuchs zu nennen.
Andere instrumentenspezifische Aufzeichnungsweisen, wie insbesondere
eine spezielle Griffnotation für die Laute, lassen sich erst gegen
Ende des 15. und Beginn des 16. Jahrhunderts nachweisen – dann
aber gleich in unterschiedlichen Verfahren nördlich und
südlich der Alpen als deutsche bzw. italienische Lautentabulatur.
Es stellt sich die Frage, auf welche Art von Musik und Notation die
übrigen Instrumentalisten zurückgriffen, wenn sie denn
überhaupt auf notierte Musik angewiesen waren und nicht vor allem
auf sozusagen schriftloser Basis musizierten. Eine mögliche
Teilantwort auf diese Frage gibt ein erst vor kurzem aufgefundenes
Papierblatt wohl aus dem Ende des 15. Jahrhunderts, das mit collum
lutine (Lautenhals) bezeichnet ist und welches das spezielle
Zeicheninventar der »deutschen Orgeltabulatur« für
Lautenspieler erschließt (Kasseler Lautenkragen). Die
beiden Zeilen der angeblichen »Orgeltabulatur« können
demnach bequem von einem Duo etwa zweier Lauten gespielt werden (wobei
eine die Unterstimmen und die andere die Oberstimme übernimmt),
oder unter Umständen auch von einer Laute allein. Anders gesagt:
Durch diese Quelle wird belegt, dass Aufzeichnungen in sogenannter
Orgeltabulatur nicht nur für Tasteninstrumente, sondern offenbar
auch für andere Instrumente wie Laute und wohl auch Harfe
verwendet wurden. Damit eröffnet sich ein reiches Feld an
Möglichkeiten, indem die Verfahren und Techniken der in diesen
Quellen notierten Intabulierungen auch für andere Musik adaptiert
werden können. Eine Handschrift wie beispielsweise das Lochamer
Liederbuch, das aus einem herkömmlich notierten Teil mit
Liedern besteht, dem sich ein zweiter Teil mit Intabulierungen teils
eben dieser Lieder anschließt, ermöglicht genaue Einblicke,
wie ein vokales Modell für ein Instrument adaptiert wurde.
Vergleicht man darüber hinaus verschiedene Intabulierungen ein und
derselben Musik, so zeigt sich die mögliche Bandbreite der
Verfahren, wie sie sonst nicht den Weg in die Schrift fanden.
Wohl nicht zufällig erkennt man bei diesen Tabulaturen eine enge
Verbindung gerade zwischen Tasten- und Saiteninstrumenten. Das
hängt in erster Linie mit der bei beiden Instrumenten
vergleichbaren Beherrschung einer polyphonen Struktur durch nur einen
Spieler zusammen. Möglicherweise bezieht sich darauf die Bemerkung
des Prager Theoretikers Paulus Paulirinus in seinem Traktat Liber
viginti artium von ca. 1460, der Lautenspieler habe eine den
Verstand betreffende Aufgabe beim Spielen von Musik (eben weil er
mehrere auf einander bezogene Stimmen zu kontrollieren hat).
Ähnlich betont zur gleichen Zeit Johannes Tinctoris die besonders
schwierige wie kunstvolle Spielweise herausragender Lautenisten, die
bis zu vier Stimmen einer polyphonen Komposition alleine vortragen
konnten.
Die Spezialisierung auf nur ein Instrument war noch nicht die Regel:
Musiker, die nicht nur Musikanten waren, beherrschten offenbar mehrere
Instrumente und konnten eine Aufzeichnungsart für verschiedene
Instrumente verwenden. So wird von Pieter Burse (oder Beurst), Organist
der Kapelle des Herzogs von Orléans und Clavichordlehrer der
Maria von Burgund, berichtet, wie er Erzherzog Maximilian während
einer Krankheit im Frühjahr 1480 »sowohl mit Orgeln wie
Flöten, Laute und anderweitig« unterhielt. Der herausragende
Organist Conrad Paumann wurde 1458 als Meister aller Orgelmeister und
aller Instrumente der musikalischen Kunst bezeichnet. Sein Grabstein in
der Münchener Frauenkirche bildet ihn zur sichtbaren
Bestätigung mit einem Portativ in den Händen ab, umgeben von
Laute, Blockflöte, Rebec und Harfe. Das auf dem Knie
abgestützte Portativ ermöglichte allerdings nur
eingeschränkt mehrstimmiges Spiel, die andere Hand musste auf der
Rückseite den Balg zur Luftversorgung betätigen. Große
Orgelwerke – sei es als Schwalbennest-Orgel oder auch als
größeres Tisch- oder Stand-Positiv – waren als in der
Herstellung sehr aufwendige Instrumente vor allem in Kirchenräumen
oder reich ausgestatteten Kapellen üblich und wohl nur
ausnahmsweise im Besitz von Musikern.
Nicht zuletzt deshalb war das Clavichord das Tasteninstrument für
zu Hause, und seit dem Beginn des 15. Jahrhundert findet sich dort auch
das neu erfundene Clavicymbalum, das mittels Kielen angezupfte
Saiteninstrument mit Tasten. Wenn auch die Nomenklatur in den Quellen
nicht immer ganz eindeutig aufzulösen ist, so ist mit dem oben
bereits erwähnten »exaquier« oder andernorts
»schaffprett« genannten Instrument ein Tasteninstrument
(mit Clavichord- oder Cembalo-Mechanik) gemeint. Die Kombination der
vielfältigen Typen von Tasteninstrumenten mit »nicht
mechanisiert« gespielten Saiteninstrumenten zeigt sich
beispielsweise im Testament von Johannes Lupi, Kaplan in Diensten von
Herzog Friedrich IV. von Österreich und Schreiber einiger der Trienter
Codices, aus dem Jahre 1455: Er vermacht immer zusammen »mein
Schaffpret, Musikinstrument, und mein Portativ«, »ein
Clavichord und eine Laute« sowie »mein Clavicymbalum, ein
Clavichord und eine Laute«.
Die Kombination von Tasteninstrument und Laute oder auch Quinterne, wie
sie sich in den genannten Quellen belegen lässt, findet sich in
bildlichen Darstellungen allerdings nicht. Das kann einerseits damit
zusammenhängen, dass die Tasteninstrumente mit Ausnahme des
Portativs nicht gut transportabel waren, und buchstäblich einen
festen Platz etwa in einer »Kammer« brauchten. Auf den
intimen Ort einer Kammer verweisen aber italienische Intarsien
(etwa in Urbino, Genua und im Vatikan), wo sich gemeinsame
Darstellungen mit einem Nebeneinander von besaiteten Tasteninstrument
und Laute finden. Die besondere Nähe beider Instrumente zeigt sich
noch im 16. Jahrhundert, auch wenn dann die eigenständige
Profilierung der verschiedenen Instrumente immer deutlicher wird. Zu
nennen ist etwa der früheste deutsche Druck mit Orgel und
Lautentabulaturen aus dem Jahre 1512: Arnolt Schlicks Tabulaturen
Etlicher lobgesang vnd lidlein vff die orgeln vnd lauten. Zwar sind
hier die beiden Aufzeichnungsarten säuberlich getrennt, aber im
Vorwort wird Schlick, der wie Paumann blind war, »als ein alten
erfarnen derselben / vff orgeln / lauten harpffen etc.
lebendiger stimme« bezeichnet, und damit wiederum auf die
althergebrachte Nähe von Tasten-und Saiteninstrumenten verwiesen.
Ein konkreter Beleg für ein vielleicht gemeinsames Agieren
lässt sich in einer handschriftlichen Basler Orgeltabulatur von
ca. 1515 sehen: Dort ist dreistimmig und in Tabulaturnotation Paul
Hofhaimers »Tandernack uf dem Rin lag« aufgezeichnet. Am
Ende des Manuskriptes aber findet sich eine vierte Stimme dazu, in
normaler Mensuralnotation geschrieben und mit dem Vermerk versehen
»Von eim andren darzu zuschlagen« – etwa von einem
Lautenisten?
Martin Kirnbauer
À LA RECHERCHE DU SON PERDU
An irritating phenomenon of late medieval music reveals itself in the
notable contrast between the rich evidence of instrumental playing on
the one hand, and the almost total loss of practical sources of
instrumental repertoire on the other. Sporadic written sources
surviving from the late thirteenth and fourteenth centuries (i.e. the estampies
in the Parisian Manuscrit du Roi, the English Robertsbridge
Codex or an Italian fragment for keyboard instruments from Padua)
are nevertheless proof that attempts at notating instrumental music
have an early history. Also, specific keyboard notation (known today as
«organ tablature») was developed, allowing polyphonic music
to be written down on separate staves reflecting the right and the left
hands of the player. Music notated in this way is mentioned for example
in a letter dated 1388 from King Juan of Aragon to the court of
Burgundy. In it, the king asks to be lent a musician, a certain
«Johan dels orguens», who should bring along «a book
containing estampies and other known works for exaquier
and organ». There are, however, very few musical sources in
keyboard notation surviving from the time before 1500: besides some
scattered fragments, major sources include the Faenza Codex,
the Tablature of Adam Ileborgh, the Buxheimer Orgelbuch
and part of the Lochamer Liederbuch devoted to organ music.
Other instrument-specific notation systems, particularly lute
tablature, appeared as late as the end of the fifteenth and the
beginning of the sixteenth centuries, but then simultaneously north and
south of the Alps (thus, one speaks of German and Italian lute
tablature, respectively). The question arises, what kind of music and
notation was used by other instrumentalists, if they depended on
written music at all? The recently discovered late fifteenth-century
document headed collum lutine (lute neck), also known as the Kasseler
Lautenkragen, may offer a partial answer, as it reveals a key to
reading German keyboard notation on the lute whereby both staves of the
keyboard score can be conveniently read by two lutenists (one playing
the upper, the other the remaining parts), or – in certain
circumstances – even by a single lutenist. In other words, this
document proves that music notated in «organ tablature» is
not exclusively keyboard music and was apparently used for other
instruments, i.e. the lute (and perhaps the harp). This fact introduces
a rich palette of possibilities, since the procedures and techniques
found in the notated intabulations may also be adopted for other types
of music. For instance, a source such as the Lochamer Liederbuch
transmits both conventionally notated songs and their instrumental
versions, allowing for a close examination of the procedures for
arranging a vocal model. Furthermore, a comparison of various settings
of one and the same piece reveals a wide range of formulas otherwise
not recorded in writing.
A close relationship between keyboard and plucked stringed instruments,
detected throughout these tablatures, is not mere coincidence: both
types of instruments are capable of handling polyphonic structure with
only one performer. Perhaps this is what the theorist Paulus Paulirinus
of Prague had in mind, when around 1460 he wrote in his treatise Liber
viginti artium: «The lutenist performs an intellectual task
in playing a piece» (since he must control multiple, related
parts). Around the same time, Johannes Tinctoris remarked on both the
artfulness and the particular complexity of playing styles of those
outstanding lutenists who were able to perform up to four parts of a
polyphonic composition alone.
Specialising in one instrument was not yet the rule, and musicians
– who were no mere minstrels – apparently often mastered
several instruments and could have used one and the same notation
system for various instruments. Pieter Burse (or Beurst), for instance,
chapel organist to the Duke of Orléans and clavichord teacher of
Mary of Burgundy, is reported to have entertained Archduke Maximilian
during the latter's sickness in spring of 1480 on «organs as well
as flutes, lute and otherwise». In 1458, the outstanding organist
Conrad Paumann was called «master of all master organists and of
all instruments of the art of music». A visual confirmation of
this opinion is provided by Paumann's tombstone in the Frauenkirche
in Munich, where he is depicted playing portative organ and surrounded
by lute, recorder, rebec and harp. Supported upon a knee, the portative
organ had only very limited potential for polyphonic playing, since one
hand was needed to operate bellows behind the instrument. Large organs
– such as a swallow's nest organ or a larger table or
free-standing positive organ – were expensive instruments to
produce and were therefore found primarily in churches or richly
furnished chapels. Only few musicians could have owned such instruments.
This also explains why the clavichord and – from the early
fifteenth century on – the clavicymbalum (a quill-plucked
stringed keyboard instrument, then still a novelty) were popular
instruments for home use. Despite the ambiguity of the nomenclature
found in the sources, the above-mentioned exaquier (or schaffprett)
was clearly a keyboard instrument with clavichord or harpsichord
mechanics. The combination of various types of keyboard instruments and
non-mechanical stringed instruments is seen, for instance, in the will
of Johannes Lupi (chaplain in service of Duke Frederic IV of Austria
and scribe of some of the Trent Codices) dated 1455: Lupi
always bequeaths together «my schaffpret, musical
instrument, and my portative [organ]», «one clavichord and
one lute», as well as «my harpsichord, one clavichord and
one lute».
The combination keyboard instrument–lute (or gittern), as seen in
the above-mentioned sources, is not found in contemporary iconography.
This may be because keyboard instruments (with the possible exception
of the portative organ) were generally less easily transported and
required a fixed location such as a «chamber».
Nevertheless, the Italian intarsias (for instance in Urbino,
Genua and in the Vatican) represent such an intimate chamber, where a
stringed keyboard instrument and a lute are depicted in close
proximity.
Even in the sixteenth century, when differences between various
instruments become increasingly stronger, the relationship between
keyboard instruments and the lute remains particularly close. Suffice
it to mention Arnolt Schlick's 1512 publication Tabulaturen
Etlicher lobgesang vnd lidlein vff die orgeln vnd lauten –
the earliest German print containing organ and lute tablature. Although
notation systems for both instruments are here clearly distinct, in the
preface Schlick (who, like Paumann, was blind) is called «an old
and experienced [musician] on organ, as well as on lutes, harps, etc.,
and in singing» – a clear reference to the traditional
relationship between keyboard and plucked stringed instruments.
Tangible evidence of a possible ensemble of these instruments is seen
in a Basel manuscript of organ tablature from around 1515. It contains
a three-part version of Paul Hofhaimer's Tandernack uf dem Rin lag
in keyboard notation. At the end of the manuscript, however, an
additional fourth part was written in mensural notation, with the
remark: «to be played by another [player]» – perhaps
a lutenist?
Martin Kirnbauer
(Translation: Michael Craddock)