Von edler Art / Corina Marti · Michal Gondko
Martin Kirnbauer. À LA RECHERCHE DU SON PERDU

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À LA RECHERCHE DU SON PERDU

Zu den besonders irritierenden Phänomenen spätmittelalterlicher Musik gehört die merkwürdige Differenz zwischen den vielfachen Belegen für eine reiche Instrumentalmusikpraxis in Text- und Bildquellen einerseits, und dem fast vollständigen Ausfall an praktischen Quellen für die gespielte Musik andererseits. Dabei setzte die Verschriftlichung von Instrumentalmusik bereits früh ein, wie vereinzelte Aufzeichnungen aus dem späten 13. und 14. Jahrhundert, z. B. die Estampien des Pariser Manuscrit du Roi, der englische Robertsbridge Codex oder ein italienisches Fragment für Tasteninstrumente in Padua, belegen. Es entwickelte sich sogar eine eigene Notationsform, die heute als »Orgeltabulatur« bezeichnet wird, und mit der mehrstimmige Musik scheinbar sinnfällig nach rechter und linker Hand eines Tasteninstrumentenspielers getrennt aufgezeichnet wurde. Solche Aufzeichnungen sind beispielsweise in einem Schreiben von König Juan d'Aragon an den burgundischen Hof im Jahre 1388 erwähnt, in welchem er darum bittet, ihm einen Musiker mit Namen »Johan dels orguens« zu überlassen. Dieser solle aber unbedingt auch »das Buch, in dem Estampien und andere ihm bekannte Werke für exaquier und Orgel notiert sind« – also offenbar explizit für Tasteninstrumente aufgezeichnete Musik – mitbringen. Die erhaltenen Quellen mit solcherart notierter Musik vor 1500 lassen sich allerdings an einer
Hand aufzählen: neben einigen wenigen Fragmenten und verstreuten Aufzeichnungen sind vor allem der Codex Faenza, die Tabulatur des Adam Ileborgh, das Buxheimer Orgelbuch und der Orgelbuchteil des Lochamer Liederbuchs zu nennen.

Andere instrumentenspezifische Aufzeichnungsweisen, wie insbesondere eine spezielle Griffnotation für die Laute, lassen sich erst gegen Ende des 15. und Beginn des 16. Jahrhunderts nachweisen – dann aber gleich in unterschiedlichen Verfahren nördlich und südlich der Alpen als deutsche bzw. italienische Lautentabulatur. Es stellt sich die Frage, auf welche Art von Musik und Notation die übrigen Instrumentalisten zurückgriffen, wenn sie denn überhaupt auf notierte Musik angewiesen waren und nicht vor allem auf sozusagen schriftloser Basis musizierten. Eine mögliche Teilantwort auf diese Frage gibt ein erst vor kurzem aufgefundenes Papierblatt wohl aus dem Ende des 15. Jahrhunderts, das mit collum lutine (Lautenhals) bezeichnet ist und welches das spezielle Zeicheninventar der »deutschen Orgeltabulatur« für Lautenspieler erschließt (Kasseler Lautenkragen). Die beiden Zeilen der angeblichen »Orgeltabulatur« können demnach bequem von einem Duo etwa zweier Lauten gespielt werden (wobei eine die Unterstimmen und die andere die Oberstimme übernimmt), oder unter Umständen auch von einer Laute allein. Anders gesagt: Durch diese Quelle wird belegt, dass Aufzeichnungen in sogenannter Orgeltabulatur nicht nur für Tasteninstrumente, sondern offenbar auch für andere Instrumente wie Laute und wohl auch Harfe verwendet wurden. Damit eröffnet sich ein reiches Feld an Möglichkeiten, indem die Verfahren und Techniken der in diesen Quellen notierten Intabulierungen auch für andere Musik adaptiert werden können. Eine Handschrift wie beispielsweise das Lochamer Liederbuch, das aus einem herkömmlich notierten Teil mit Liedern besteht, dem sich ein zweiter Teil mit Intabulierungen teils eben dieser Lieder anschließt, ermöglicht genaue Einblicke, wie ein vokales Modell für ein Instrument adaptiert wurde. Vergleicht man darüber hinaus verschiedene Intabulierungen ein und derselben Musik, so zeigt sich die mögliche Bandbreite der Verfahren, wie sie sonst nicht den Weg in die Schrift fanden.

Wohl nicht zufällig erkennt man bei diesen Tabulaturen eine enge Verbindung gerade zwischen Tasten- und Saiteninstrumenten. Das hängt in erster Linie mit der bei beiden Instrumenten vergleichbaren Beherrschung einer polyphonen Struktur durch nur einen Spieler zusammen. Möglicherweise bezieht sich darauf die Bemerkung des Prager Theoretikers Paulus Paulirinus in seinem Traktat Liber viginti artium von ca. 1460, der Lautenspieler habe eine den Verstand betreffende Aufgabe beim Spielen von Musik (eben weil er mehrere auf einander bezogene Stimmen zu kontrollieren hat). Ähnlich betont zur gleichen Zeit Johannes Tinctoris die besonders schwierige wie kunstvolle Spielweise herausragender Lautenisten, die bis zu vier Stimmen einer polyphonen Komposition alleine vortragen konnten.

Die Spezialisierung auf nur ein Instrument war noch nicht die Regel: Musiker, die nicht nur Musikanten waren, beherrschten offenbar mehrere Instrumente und konnten eine Aufzeichnungsart für verschiedene Instrumente verwenden. So wird von Pieter Burse (oder Beurst), Organist der Kapelle des Herzogs von Orléans und Clavichordlehrer der Maria von Burgund, berichtet, wie er Erzherzog Maximilian während einer Krankheit im Frühjahr 1480 »sowohl mit Orgeln wie Flöten, Laute und anderweitig« unterhielt. Der herausragende Organist Conrad Paumann wurde 1458 als Meister aller Orgelmeister und aller Instrumente der musikalischen Kunst bezeichnet. Sein Grabstein in der Münchener Frauenkirche bildet ihn zur sichtbaren Bestätigung mit einem Portativ in den Händen ab, umgeben von Laute, Blockflöte, Rebec und Harfe. Das auf dem Knie abgestützte Portativ ermöglichte allerdings nur eingeschränkt mehrstimmiges Spiel, die andere Hand musste auf der Rückseite den Balg zur Luftversorgung betätigen. Große Orgelwerke – sei es als Schwalbennest-Orgel oder auch als größeres Tisch- oder Stand-Positiv – waren als in der Herstellung sehr aufwendige Instrumente vor allem in Kirchenräumen oder reich ausgestatteten Kapellen üblich und wohl nur ausnahmsweise im Besitz von Musikern.

Nicht zuletzt deshalb war das Clavichord das Tasteninstrument für zu Hause, und seit dem Beginn des 15. Jahrhundert findet sich dort auch das neu erfundene Clavicymbalum, das mittels Kielen angezupfte Saiteninstrument mit Tasten. Wenn auch die Nomenklatur in den Quellen nicht immer ganz eindeutig aufzulösen ist, so ist mit dem oben bereits erwähnten »exaquier« oder andernorts »schaffprett« genannten Instrument ein Tasteninstrument (mit Clavichord- oder Cembalo-Mechanik) gemeint. Die Kombination der vielfältigen Typen von Tasteninstrumenten mit »nicht mechanisiert« gespielten Saiteninstrumenten zeigt sich beispielsweise im Testament von Johannes Lupi, Kaplan in Diensten von Herzog Friedrich IV. von Österreich und Schreiber einiger der Trienter Codices, aus dem Jahre 1455: Er vermacht immer zusammen »mein Schaffpret, Musikinstrument, und mein Portativ«, »ein Clavichord und eine Laute« sowie »mein Clavicymbalum, ein Clavichord und eine Laute«.

Die Kombination von Tasteninstrument und Laute oder auch Quinterne, wie sie sich in den genannten Quellen belegen lässt, findet sich in bildlichen Darstellungen allerdings nicht. Das kann einerseits damit zusammenhängen, dass die Tasteninstrumente mit Ausnahme des Portativs nicht gut transportabel waren, und buchstäblich einen festen Platz etwa in einer »Kammer« brauchten. Auf den intimen Ort einer Kammer verweisen aber italienische Intarsien (etwa in Urbino, Genua und im Vatikan), wo sich gemeinsame Darstellungen mit einem Nebeneinander von besaiteten Tasteninstrument und Laute finden. Die besondere Nähe beider Instrumente zeigt sich noch im 16. Jahrhundert, auch wenn dann die eigenständige Profilierung der verschiedenen Instrumente immer deutlicher wird. Zu nennen ist etwa der früheste deutsche Druck mit Orgel und Lautentabulaturen aus dem Jahre 1512: Arnolt Schlicks Tabulaturen Etlicher lobgesang vnd lidlein vff die orgeln vnd lauten. Zwar sind hier die beiden Aufzeichnungsarten säuberlich getrennt, aber im Vorwort wird Schlick, der wie Paumann blind war, »als ein alten erfarnen derselben / vff orgeln / lauten harpffen etc. lebendiger stimme« bezeichnet, und damit wiederum auf die althergebrachte Nähe von Tasten-und Saiteninstrumenten verwiesen. Ein konkreter Beleg für ein vielleicht gemeinsames Agieren lässt sich in einer handschriftlichen Basler Orgeltabulatur von ca. 1515 sehen: Dort ist dreistimmig und in Tabulaturnotation Paul Hofhaimers »Tandernack uf dem Rin lag« aufgezeichnet. Am Ende des Manuskriptes aber findet sich eine vierte Stimme dazu, in normaler Mensuralnotation geschrieben und mit dem Vermerk versehen »Von eim andren darzu zuschlagen« – etwa von einem Lautenisten?

Martin Kirnbauer

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À LA RECHERCHE DU SON PERDU

An irritating phenomenon of late medieval music reveals itself in the notable contrast between the rich evidence of instrumental playing on the one hand, and the almost total loss of practical sources of instrumental repertoire on the other. Sporadic written sources surviving from the late thirteenth and fourteenth centuries (i.e. the estampies in the Parisian Manuscrit du Roi, the English Robertsbridge Codex or an Italian fragment for keyboard instruments from Padua) are nevertheless proof that attempts at notating instrumental music have an early history. Also, specific keyboard notation (known today as «organ tablature») was developed, allowing polyphonic music to be written down on separate staves reflecting the right and the left hands of the player. Music notated in this way is mentioned for example in a letter dated 1388 from King Juan of Aragon to the court of Burgundy. In it, the king asks to be lent a musician, a certain «Johan dels orguens», who should bring along «a book containing estampies and other known works for exaquier and organ». There are, however, very few musical sources in keyboard notation surviving from the time before 1500: besides some scattered fragments, major sources include the Faenza Codex, the Tablature of Adam Ileborgh, the Buxheimer Orgelbuch and part of the Lochamer Liederbuch devoted to organ music.

Other instrument-specific notation systems, particularly lute tablature, appeared as late as the end of the fifteenth and the beginning of the sixteenth centuries, but then simultaneously north and south of the Alps (thus, one speaks of German and Italian lute tablature, respectively). The question arises, what kind of music and notation was used by other instrumentalists, if they depended on written music at all? The recently discovered late fifteenth-century document headed collum lutine (lute neck), also known as the Kasseler Lautenkragen, may offer a partial answer, as it reveals a key to reading German keyboard notation on the lute whereby both staves of the keyboard score can be conveniently read by two lutenists (one playing the upper, the other the remaining parts), or – in certain circumstances – even by a single lutenist. In other words, this document proves that music notated in «organ tablature» is not exclusively keyboard music and was apparently used for other instruments, i.e. the lute (and perhaps the harp). This fact introduces a rich palette of possibilities, since the procedures and techniques found in the notated intabulations may also be adopted for other types of music. For instance, a source such as the Lochamer Liederbuch transmits both conventionally notated songs and their instrumental versions, allowing for a close examination of the procedures for arranging a vocal model. Furthermore, a comparison of various settings of one and the same piece reveals a wide range of formulas otherwise not recorded in writing.

A close relationship between keyboard and plucked stringed instruments, detected throughout these tablatures, is not mere coincidence: both types of instruments are capable of handling polyphonic structure with only one performer. Perhaps this is what the theorist Paulus Paulirinus of Prague had in mind, when around 1460 he wrote in his treatise Liber viginti artium: «The lutenist performs an intellectual task in playing a piece» (since he must control multiple, related parts). Around the same time, Johannes Tinctoris remarked on both the artfulness and the particular complexity of playing styles of those outstanding lutenists who were able to perform up to four parts of a polyphonic composition alone.

Specialising in one instrument was not yet the rule, and musicians – who were no mere minstrels – apparently often mastered several instruments and could have used one and the same notation system for various instruments. Pieter Burse (or Beurst), for instance, chapel organist to the Duke of Orléans and clavichord teacher of Mary of Burgundy, is reported to have entertained Archduke Maximilian during the latter's sickness in spring of 1480 on «organs as well as flutes, lute and otherwise». In 1458, the outstanding organist Conrad Paumann was called «master of all master organists and of all instruments of the art of music». A visual confirmation of this opinion is provided by Paumann's tombstone in the Frauenkirche in Munich, where he is depicted playing portative organ and surrounded by lute, recorder, rebec and harp. Supported upon a knee, the portative organ had only very limited potential for polyphonic playing, since one hand was needed to operate bellows behind the instrument. Large organs – such as a swallow's nest organ or a larger table or free-standing positive organ – were expensive instruments to produce and were therefore found primarily in churches or richly furnished chapels. Only few musicians could have owned such instruments.

This also explains why the clavichord and – from the early fifteenth century on – the clavicymbalum (a quill-plucked stringed keyboard instrument, then still a novelty) were popular instruments for home use. Despite the ambiguity of the nomenclature found in the sources, the above-mentioned exaquier (or schaffprett) was clearly a keyboard instrument with clavichord or harpsichord mechanics. The combination of various types of keyboard instruments and non-mechanical stringed instruments is seen, for instance, in the will of Johannes Lupi (chaplain in service of Duke Frederic IV of Austria and scribe of some of the Trent Codices) dated 1455: Lupi always bequeaths together «my schaffpret, musical instrument, and my portative [organ]», «one clavichord and one lute», as well as «my harpsichord, one clavichord and one lute».

The combination keyboard instrument–lute (or gittern), as seen in the above-mentioned sources, is not found in contemporary iconography. This may be because keyboard instruments (with the possible exception of the portative organ) were generally less easily transported and required a fixed location such as a «chamber». Nevertheless, the Italian intarsias (for instance in Urbino, Genua and in the Vatican) represent such an intimate chamber, where a stringed keyboard instrument and a lute are depicted in close proximity.
Even in the sixteenth century, when differences between various instruments become increasingly stronger, the relationship between keyboard instruments and the lute remains particularly close. Suffice it to mention Arnolt Schlick's 1512 publication Tabulaturen Etlicher lobgesang vnd lidlein vff die orgeln vnd lauten – the earliest German print containing organ and lute tablature. Although notation systems for both instruments are here clearly distinct, in the preface Schlick (who, like Paumann, was blind) is called «an old and experienced [musician] on organ, as well as on lutes, harps, etc., and in singing» – a clear reference to the traditional relationship between keyboard and plucked stringed instruments. Tangible evidence of a possible ensemble of these instruments is seen in a Basel manuscript of organ tablature from around 1515. It contains a three-part version of Paul Hofhaimer's Tandernack uf dem Rin lag in keyboard notation. At the end of the manuscript, however, an additional fourth part was written in mensural notation, with the remark: «to be played by another [player]» – perhaps a lutenist?

Martin Kirnbauer
(Translation: Michael Craddock)



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