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1990
Sony classical "Vivarte" SK 45 861
November 2-5, 1989
Ursulinenkloster, Niederaltaich (Bavaria)
1 - Ave maris stella (Hymnus, IV. tone) [2:07]
I.
Immaculata conceptio B. M. V.
2 - Gaudens gaudebo (Introitus, III.
tone) [3:22]
3 - Benedicta es tu, Virgo Maria (Graduale, V.
tone) [2:30]
II.
In nativitate B. M. V.
4 - Ave Maria (Responsorium breve, VI.
tone) [1:51]
5 - Nativitas tua (Antiphon ad Magnificat, I.
tone) [1:16]
III.
In
annuntiatione B. M. V.
6 - Ave Maria (Offertorium, VIII. tone) [1:59]
7 - Ave Maria (Sequentia, V. tone) [4:07]
8 - Ecce Virgo concipiet (Communio, I.
tone) [3:04]
IV.
Visitatio B. M. V.
9 - Cum audisset salutationem Mariae / Canticum Zachariae
(Ad Benedictus Antiphona, VIII. tone) [5:36]
10 - Magnificat (Responsorium, II. tone) [2:48]
11 - Magnificat (Evangelium, I. tone) [4:13]
V.
In nativitate Domini
12 - Kyrie - virginitatis amator (Tropus, III.
tone) [4:07]
13 - Salve sancta Parens (Introitus, II.
tone) [2:21]
14 - Alma redemptoris Mater (Sequentia, V.
tone) [4:09]
VI.
In purificatione B. M. V.
15 - Lumen ad revelationem gentium / Canticum Simeonis
(Antiphona, VIII. tone) [2:52]
16 - Adorna thalamum tuum (Antiphona, VI.
tone) [2:25]
VII.
In festo septem dolorum
17 - Stabat sancta Maria (Tractus, II.
tone) [2:40]
18 - Stabat Mater dolorosa (Sequentia, II.
tone) [5:14]
19 - Recordare, Virgo Mater (Offertorium + Tropus,
I. tone) [1:51]
VIII.
In assumptione B. M. V.
20 - Gaudeamus omnes in Domino (Introitus, I.
tone) [2:53]
21 - Lectio libri sapientiae (2stimmige
Lesung) [4:13]
22 - Assumpta est Maria in caelum (Offertorium,
VIII. tone) [1:54]
Weitere Stücke
23 - Sancta Maria, succurre miseris (Antiphona ad
Magnificat, I. tone) [1:42]
24 - Salve Regina, Mater misericordiae (Antiphona
ad Maria, I. tone) [2:38]
Niederaltaicher Scholaren
Konrad Ruhland
Ave Maris Stella
Marienleben im Choral
Seit der Niederschrift des
Lukas-Evangeliums, wo Maria selbst im Magnificat (Lk. 1, 46-55) singt:
„Sieh, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter“, ist ihr
Loblier nicht mehr verstummt. Unzählige Dichter, Gelehrte und fahrende
Scholaren haben Maria zu Ehren gedichtet, gesungen und gebetet.
Generationen haben sich an ihrem Festtagsreigen beteiligt, der in
steter Regelmäßigkeit das Kirchenjahr durchzieht. Neben den großen
Herrenfesten und den Namenstagen der Heiligen sind es besonders die
Festtage der Mutter Gottes, die den Kalender des Kirchenjahres
bestimmen.
Auch wenn in lokalen Traditionen diese Tage viel zahlreicher waren, als
wir sie uns heute vorstellen können, sollen uns hier allein die
zentralen Marienfeste beschäftigen.
Die acht Marienfeste, die sich in unseren Gesängen widerspiegeln,
erhalten ihren äußeren Rahmen durch den Titel-Hymnus „Ave
maris stella“, den am weitesten verbreiteten und beliebtesten
Marienhymnus des gesamten Mittelalters. Rahmenfunktion erfüllen auch
die beiden Mariengebete am Schluß des Festkreises: „Santa
Maria succurre miseris“ und das „Salve Regina, Mater
misericordiae“. Damit ist - wie in vielen Mariengesängen spürbar - die
Hinwendung vom Lobhymnus zum Fürbittgebet an Maria vollzogen. Ist das „Sancta
Maria succurre miseris“ geradezu eine Art Ständegebet von
ungeheurer Eindringlichkeit, so stellt das „Salve Regina,
Mater misericordiae“ die wohl bedeutendste der vier großen
Marianischen Antiphonen dar; hier in ihrer feierlichen Singweise, die
dem Reichenauer Mönch Hermannus Contractus (Hermann
der Lahme, 1013-1054) zugeschrieben wird.
Schier unerschöpflich sind die Gesänge, die als Lobpreis oder Fürbitte
an Maria gerichtet sind. Besonders im Bereich des Hymnus, der Sequenz,
des Tropus und der Cantio entwickelte sich im Mittelalter ein
dichterisch-sprachlicher wie musikalisch-melodischer Erfindungsreichtum
von hohem Niveau. Bei der vorliegenden Auswahl ging es darum, innerhalb
des vorgegebenen Festkreises eine möglichst große Vielfalt an Form,
Inhalt und musikalischer Gestaltung aufzuzeigen. So kam etwa eine
Zusammenstellung der ältesten Gesänge oder die Darstellung einer
vollständigen Marienmesse nicht in Betracht. Die Einspielung umfaßt
statt dessen eine Vielzahl von Gesängen unterschiedlicher
Entstehungszeit und Herkunft und schließt auch verschiedene Vertonungen
des gleichen Textes - etwa des Magnificat - nicht aus.
Manche der Fest- und Gedenktage Marias sind aufs engste mit den
Herrenfesten verknüpft. Die Reihenfolge der vorliegenden Einspielung
hält sich nicht analen Ablauf im Kirchenjahr, sondern an die
Chronologie im Leben Marias.
Nach dem eröffnenden Hymnus „Ave maris stella“ aus
zisterziensischer Tradition, in der Maria seit alters her eine ganz
besondere Verehrung genoß, folgen die einzelnen Feste.
I. Mariä unbefleckte Empfängnis
(8. Dezember) oder auch Mariä Erwählung zur Mutter des Herrn steht am
Anfang des Heilswerks Christi. In dieses Fest führen der gewaltige,
freudige Introitus „Gaudens gaudebo“ im phrygischen
Kirchenton und das strahlende Graduale „Benedicta es tu virgo
Maria“ im V., lydischen Ton ein. Der Solovers des Graduale
teilt Maria alle erhabenen Attribute zu: „Tu gloria Jerusalem, tu
laetitia Israel, tu honorificentia populi nostri.“
II. Mariä Geburt (8. September)
ist - neben dem Weihnachtsfest und der Geburt des hl. Johannes - einer
der drei Geburtstage, die in der Kirche gefeiert werden. Das
Responsorium breve im VI. Ton „Ave Maria“ - einer
der schönsten Topoi der Choralmelodien - und die Antiphon „Nativitas
tua“, die zu den Cantica Magnificat und Benedictus gesungen
wird, vertreten hier dieses Fest.
III. Mariä Verkündigung (25.
März). Die Botschaft des Engels bei der Verkündigung an Maria, der
„englische Gruß“, wird zum wohl bekanntesten Mariengebet, zum „Ave
Maria“. Zahlreiche Mariengesänge stellen den Bezug der
Verkündigung zum Weihnachtsfest am 25. Dezember her. Auch in vielen
Tropen und Sequenzen wird dieser Zusammenhang deutlich, so daß das
Herrenfest der Geburt Christi auch die Mutter des Herrn stark
berücksichtigt, in Dichtung wie in Musik. Die drei ausgewählten Gesänge
zeigen den Bezug auf und haben ein ganz besonders freudiges
Melodiegepräge, das der Bedeutung des Festes Ausdruck verleiht.
IV. Mariä Heimsuchung (2. Juli).
Auf den Besuch Marias bei ihrer Verwandten Elisabeth geht das Magnificat
zurück. Es ist der am häufigsten vertonte Marientext der
Musikgeschichte - weit vor dem Ave Maria. Auch im Choral-Repertoire
erscheint dieser Text als Antiphon, als Responsorium - und sogar als
selbständige, hochfeierliche Evangeliumvertonung. Letztere stammt aus
einer Prager Handschrift des 14. Jahrhunderts, während das
Magnificat-Responsorium dem Zisterzienser-Repertoire entnommen ist.
V. Advent und Weihnachten (25.
Dezember). Natürlich wird in der Adventszeit und am Geburtsfest Christi
auch der Mutter Gottes gedacht. Viele Gesänge zeigen die Verehrung
Marias in dieser Zeit. Unser Kyrie-Tropus stammt
aus einer späten Handschrift choraler Überlieferung: aus dem
Prämonstratenserstift Schlägl vom Beginn des 16. Jahrhunderts. Dieser
Tropus ist ganz auf Weihnachten bezogen. Der allgemeine
Marien-Introitus „Salve sancta Parens“ des Sedulius
(5. Jahrhundert), der einzige Hexameter als Introitus-Vertonung, und
die Marien-Sequenz „Alma redemptoris mater“
vertreten den Weihnachtsfestkreis. Die einem Sequentiarium aus Rheinau
entnommene Sequenz zitiert am Anfang und am Schluß Text und Melodie der
entsprechenden Antiphon. Dieses Zitat erklärt auch „das für eine
Sequenz unerhörte Melisma am Anfang“ (Peter Wagner). Es zeigt sich
einmal mehr, daß auch in Deutschland die Muttergottesverehrung des
Mittelalters in den Sequenzen ihren augenfälligsten Niederschlag fand.
VI. Mariä Lichtmeß (2. Februar).
Das Fest der „Darstellung des Herrn“, gemäß dem mosaischen Gesetz 40
Tage nach seiner Geburt, verbunden mit dem „Reinigungsopfer“ der
Mutter, wurde in Deutschland, mit Kerzenweihe und Lichterprozession
versehen, zur „Lichtmeß“. Hier darf die berühmte Antiphon „Lumen
ad revelationem“, verbunden mit dem Canticum des greisen
Simeon „Nunc dimittis servum tuum", nicht fehlen.
Responsorialer Vortrag von stets wiederkehrender Antiphon und Psalmodie
wird im ganzen Kirchenjahresrepertoire nicht so deutlich wie hier. Das
Licht-Thema artikuliert spürbar die Verbindung von Epiphanie und
Ostern. Eine der größten und merkwürdigsten Antiphonen, die wohl nie
mit der Psalmodie verbunden war, also immer selbständig vorgetragen
wurde, nimmt sich wie eine „Königshymne“ (D. Johner) aus, mit ihrem
ständigen Kreisen um das C, das hier wie Finalis und Tenor gleichzeitig
wirkt.
VII. Fest der Sieben Schmerzen Mariä
(Freitag nach dem Passionssonntag und 15. September). Das Fest vom
Mitleiden Marias am Passionsweg ihres Sohnes wurde in Deutschland erst
im 15. Jahrhundert in Zusammenhang mit dem Servitenorden eingeführt.
Sowohl der Tractus, dessen Melodie vermutlich aus dem 11. Jahrhundert
stammt, als auch die bekanntere Sequenz „Stabat mater
dolorosa“ schildern die bewegende Situation: Maria unter dem
Kreuz ihres Sohnes. Der Dichter der einst so beliebten Sequenz blieb
bis heute unbekannt. Zwar ist die hier wiedergegebene Melodiefassung
ein sehr spätes Produkt der Choral-Renaissance in Frankreich, doch
greift sie immerhin auf eine alte Sequenz-Melodie zurück, was
ausgesprochen selten ist. Eine Rarität stellt auch das Offertorium
„Recordare virgo mater“ dar. Innerhalb des letzten großen
Melismas über „a nobis“ tritt plötzlich ein Tropus als kurze Sequenz
auf, die als Fürbitte im Leiden der Mutter gestaltet ist. Eine überaus
seltene Formung innerhalb eines Offertoriums.
VIII. Mariä Himmelfahrt (15.
August). Dieses größte Marienfest hatte in musikalischer Hinsicht eine
wechselvolle Geschichte. Mehrmals wurden fast alle Gesänge des
Festpropriums ausgetauscht. Das mag zunächst merkwürdig erscheinen,
wird aber verständlich, wenn man an die innere theologische Dynamik des
Festes denkt. Der Introitus „Gaudeamus“ war älteren
Ursprungs und wurde adaptiert: er erscheint auch an anderen Festen als
Introitusgesang. Freudig-festliches Gepräge und natürlich ausgewogene
Satzgestaltung zeichnen ihn aus. Auch das Offertorium
ist ursprünglich nicht für diesen Tag konzipiert, sondern vom Proprium
des Ostermontags entlehnt. Trotzdem ist dieser Gesang besonders bei den
Worten „gaudent“ und „collaudantes“ ungeheuer wirkungsvoll: eine
gesteigerte Melismatik spiegelt hier die Freude der Engel wider.
Als einziges Beispiel dafür, wie frühe Mehrstimmigkeit sich gleichsam
auf die Meßgesänge ausbreitet und auch entlegene Formen übernimmt,
steht die Lesung dieses Festtages, die aus einer bayerischen
Augustiner-Handschrift stammt. Bordunprinzip und Melodieumspielung
stehen hier gleichwertig nebeneinander. Mehr als für die organale
Komposition steht dieser Gesang noch für eine mehrstimmige
gregorianische Vortragspraxis.
Konrad Ruhland
notes
in english
Hinrik Funhof: Maria im Ährenkleid
Kunsthalle Hamburg