In natali domini
Mittelalterliche Lieder zur Weihnacht
Konrad Ruhland · Niederaltaicher Scholaren


IMAGEN

medieval.org
muziekweb.nl

1991
Sony classical "Vivarte" SK 45 946

Juli 27-29, 1990
Kloster Aldersbach, Bavaria






1 - Sei willekommen, Herre Christ   [1:11]
Ältestes deutsches Weihnachtslied (11. Jahrh.)
Erfurt, Amploniana, Ms. 332
14. Jahrhundert


2 - Gaudeamus hodie - Puer natus est nobis   [2:24]
Tropus & Introitus der III. Weihnachtsmesse
Gregorianischer Choral

3 - Danielis prophetia   [3:18]
Beliebte Scholaren-Cantio
Böhmen, 15. Jahrhundert

4 - In natali domini   [3:37]
2stimmige laudenartige Cantio
Trier, Rosarium von 1482

5 - Kyrie - Rex Mariae   [1:45]
Tropiertes Weihnachts-Kyrie
Oxford 497

6 - Sanctus - Omnes unanimiter   [2:18]
Mit Strophen tropiertes Sanctus
Graduale aus (Gyöngyös)Pata, Ungarn
16. Jahrhundert


7 - Dies est laetitiae   [3:19]
3stimmiges Weihnachtslied
Ungarn, 15. Jahrhundert

8 - Puer natus in Bethlehem in hoc anno   [2:24]
Bekannteste Cantio
14. Jahrhundert

9 - A solis ortus cardine   [2:55]
Hymnus des Sedulius
Berlin, Cod. germ. 190
15. Jahrhundert


10 - In des jares zirclikeit   [1:47]
Deutsches einstimmiges Refrain-Lied
München, Ms. von 1421
Melodie: Andernach 1608


11 - Resonet in laudibus   [1:32]
2stimmiges Strophenlied - Variante
St. Gallen, Ms. 392
14. Jahrhundert


12 - Resonet in laudibus   [2:10]
2stimmiger Satz der bekannten Fassung
Benediktbeuern, 1479
Cod. lat. 5023


13 - In natali domini   [3:52]
3stimmige Lauda
Trienter Codex 87
1. Hälfte 15. Jahrhundert


14 - In natali domini   [2:38]
Cantio „In nativitate Jesu Christi”
Böhmen, 15. Jahrhundert

15 - Der Tag, der ist so freudenreich   [1:32]
Deutsche Übertragung von „Dies est laetitiae”
Trienter Codex 88

16 - Verbum caro factum est   [1:57]
Einstimmige Cantio
Aosta, Ms. des 14. Jahrhunderts

17 - In hoc anni circulo   [1:33]
2stimmige Cantio - Variante von „Verbum caro”
Böhmen, 14. Jahrhundert

18 - Johannes de LYMBURGIA : Salve virgo regia   [3:58]
3stimmige Lauda (aus BL Q 15)
15. Jahrhundert

19 - Omnis mundus iocundetur - Alle Welt springe   [2:10]
Beliebte Scholaren-Cantio
14. Jahrhundert

20 - Omnis mundus iocundetur   [2:14]
Frühester mehrstimmiger Satz der Cantio
Böhmen, 15. Jahrhundert

21 - Puer nobis natus est   [1:13]
Weitverbreitete Cantio
Benediktbeuern, 1479
Cod. lat. 5023


22 - Procedentem sponsum   [4:01]
In Europa weitverbreiteter Benedicamus-Tropus
Antiphonar des Osvat Thuz
Zagreb, 15. Jahrhundert


23 - In dulci iubilo   [2:05]
Einer der frühesten mehrstimmigen Sätze
Berlin, Cod. germ. 190
15. Jahrhundert


24 - In dulci iubilo   [2:32]
Ältester 3stimmiger Satz
Konstanzer Fragment, um 1475

25 - Iure plaudant omnia   [1:33]
2stimmige Stimmtausch-Cantio
Liederbuch der Anna von Köln, um 1500

26 - Ave maris stella   [3:00]
Tropierter Hymnus
Berlin, Cod. germ. 190
15. Jahrhundert


27 - Verbum caro factum est   [2:53]
2stimmige Lauda
Oxford, Can. misc. 213

28 - Verbum caro factum est   [3:32]
3stimmige Lauda
Bologna (BU 2216)
15. Jahrhundert


29 - Eia, felix virgula   [1:30]
Hymnus de B. M. V. In nativitate Domini
Glogauer Liederbuch, 15. Jahrhundert

30 - Solis praevia   [1:54]
Strophenreiche Cantio (Auswahl)
Böhmen, 15. Jahrhundert




Niederaltaicher Scholaren
Konrad Ruhland

Instrumente:
Fiedel
Viole
Trumscheit
Blockflöten
Dudelsack
Krummhorn
Posaune
Tamburin
Trommel
Glocken
Cymbeln
Portativ
Régale
Diatonisches Hackbrett


Claudia Balling • Drehleier
Georg Balling • Dudelsack, Trumscheit
Helmut Berger • Tenorposaune





In Natali Domini
Mittelalterliche Lieder zur Weihnacht


Das Weihnachtslied

Zu keinem Fest des Kirchenjahres gibt es so viel Musik und auch so viele unterschiedliche Werke und Erzeugnisse wie gerade zum „Geburtstag des Herrn“ (In natali domini). Die Spannweite dabei ist gewaltig: Vom höchst funktionellen liturgischen Choralstück (Introitus - Eingangslied der Weihnachtsmesse) bis zum gefühlsbetonten, ja textlich wie musikalisch kitschigen Liederguß ist hier wohl alles zu finden. Unsere CD aber will für einen ganz bestimmten Zeitraum, vom Hochmittelalter bis zur Frührenaissance, Weihnachtsmusik vorstellen, wie sie nicht alltäglich ist, weil sie von den Ursprüngen ihrer liturgischen Herkunft bis hin zum subjektiven freien Weihnachtslied verschiedenste Ausformungen belegen will. Textlich wie musikalisch handelt es sich um wesentliche Aussagen, oft um holzschnitt artige Gebilde, in denen mit wenigen kräftigen Strichen das Wesentliche gesagt wird.

Da die Adventszeit als Zeit der Erwartung in der frühen Kirche eine Fastenzeit war, findet sich auch wenig wirkliche Adventsmusik. So soll das überaus wertvolle „Sei willekommen, Herre Christ“ aus Erfurt den Beginn unserer Weihnachtsmusik bilden. Als das wohl älteste mehrstimmige deutsche Weihnachtslied aus dem 14. Jahrhundert ist es der französischen Motette nachgebildet und mit seinem cantus firmus in der Unterstimme und den bewegten Oberstimmen von fließender Eleganz.

Auch streng liturgische Gesänge können von Freude überströmen, wie es der Introitus der III. Weihnachtsmesse „Puer natus est nobis“ (#2) im VII. Kirchenton, dem sog. „Königston“, beweist. Wenn nun in einen solchen Gesang ein neuer Text in neuer Vertonung eingebaut wird, so wird er also mit einem Tropus versehen, d.h. er wird tropiert. Damit ist der erste Schritt einer gewissen Subjektivierung liturgischer Funktion vollzogen. Diese überaus beliebte Methode, bestehende Gesänge anzureichern, auszubauen, umzuformen, führte zu den gewaltigen Gebilden der mittelalterlichen Sequenz und der Cantio, dem eigentlichen mittelalterlichen Lied. Die Wege dazu waren oft ganz verschieden, und unsere Beispiele zeigen einige grundsätzliche Arten dieses Verfahrens.

So wurde der berühmte Introitus „Puer natus est nobis“ textlich wie musikalisch neu tropiert; das „Sanctus“ aus Ungarn (#6) mit einfachsten musikalischen Mitteln, nämlich durch dauernden Stimmtausch jeweils vor dem Hosanna mit mehreren Strophen „Omnes unanimiter“ und „Universi populi“ auf Weihnachten „hin“-tropiert. Diese Texte waren beliebt und hielten sich noch lange. Michael Praetorius (1571-1621) schrieb darüber noch nach 1600 lebendige Kantionalsätze.

Bei dem in ganz Europa verbreiteten Benedicamus-Tropus „Procedentem sponsum“ (#22) werden die 6 Strophen dieses Conductus (Begleit- oder Geleitgesang) mit jeweils einer anderen Cantio (Lied) beantwortet. Ein überaus kunstfertiges Gebilde, wo Tropus und Cantio eine merkwürdige Verbindung eingehen.

Wieder ein anderes Beispiel: Der berühmteste Marienhymnus des Mittelalters, „Ave maris stella“ (#26), wird hier kurzerhand durch Einfügen (Tropieren) eines Refrain-Wortes („Novum gaudium“) nach der ersten Zeile und durch einen weiteren Zusatz nach der zweiten Zeile der Strophe zu einem echten Weihnachtshymnus umstilisiert, der nun Strophe und Refrain besitzt; während es doch sonst ein Marienhymnus per annum ist, also das Jahr hindurch verwendbar.

Der bekannteste und beliebteste Weihnachtshymnus im Mittelalter war immer schon der „Abecedar“ (jede Strophe beginnt mit dem nächsten Buchstaben des Alphabets) „A solis ortus cardine“ (#9) des Caelius Sedulius (Mitte des 5. Jahrhunderts), der hier - wohl in seiner ältesten mehrstimmigen Fassung - vorgestellt wird. Die Strophen A-G dieses großartigen Gedichts bilden den bekannten Weihnachtshymnus und somit das wohl reinste liturgische Stück dieser CD.

Wieder einen anderen Versuch, liturgische Musik zu tropieren, stellt das „Kyrie - Rex Mariae“ (#5) einer Oxforder Handschrift dar. Zwischen die Anrufungen des Messensatzes „Kyrie-eleison“ werden kurze Texte akklamationsartig eingeschoben, die den Festcharakter von Weihnachten deutlich besingen und somit diesen Messensatz eindeutig für Weihnachten ausweisen.

Viele unserer Weihnachtslieder haben einen ganz bestimmten liturgischen Ort ihrer Herkunft. Jede Messe und jede Hore (d. h. jedes Stundengebet wie Laudes oder Vesper) wird durch den Versikel „Benedicamus domino“ abgeschlossen. Genau an dieser Stelle wurden nun lateinische, später auch deutsche Gesänge (Cantiones) eingeschoben, deren letzte Strophe immer eine doxologische Ausrichtung - zur Ehre der Dreifaltigkeit - aufweist, aber auch direkt oder indirekt den Versikel „Benedicamus domino - Deo dicamus gratias“ bringt. Die liturgische Herkunft dieser Conductus-Gesänge ist deutlich ausgewiesen, wie auch ihr melodischer Reichtum an die kirchentonalen Melodien des gregorianischen Chorals gemahnt. Die Nummern 4, 6, 8, 10, 16, 18, 21, 29 gehören hierher. Manche dieser Lieder finden sich in ganz Europa: in Italien wie in England, in Polen wie in Spanien. Sie gehören also einem bestimmten internationalen Repertoire an. Allerdings kann man auch hier textlich wie formal einen gewissen Prozeß des „Zersingens“ feststellen, wie er uns eigentlich erst später, mehr vom deutschen Volkslied her, bekannt ist. Häufig ist die Anlage der Lieder in Strophe und Refrain gegliedert, wobei die Folge manchmal auch in Refrain und Strophe umgedreht wird. Bei den Stücken aus dem Repertoire der italienischen Lauda bleibt immer die Abfolge Refrain + Strophe bestehen, wie bei „In natali domini“ (#13), „Verbum caro factum est“ (#28) und „Salve virgo regia“ (#18). Daneben stehen die freien Weihnachtslieder, die hier fast alle in ihren ältesten mehrstimmigen Sätzen vorgestellt werden. Dabei ist das Alter der Aufzeichnung nicht immer relevant für den mehrstimmigen Satz. Manche Stücke stammen aus Quellen des späten 15. und sogar 16. Jahrhunderts, sind aber ihres musikalischen Satzes wegen früher anzusetzen, also nicht als Produkte der Zeit ihrer Quellenlage anzusehen.

Dieses Beharrungsvermögen mancher musikalischer Traditionen läßt sich gerade in Randgebieten und in peripheren Quellen gut verfolgen. Die meisten Lieder sind ja nicht in geschlossenen Weihnachtslieder-Sammlungen überliefert, sondern stellen zufällige Einzeleintragungen in oft kuriosen Handschriften verschiedenster Provenienz dar. Das späte „Dies est laetitiae“ aus Ungarn (#7) ist genauso ein Beispiel dafür wie das Konstanzer Fragment von „In dulci iubilo“ (#24); „Der Tag, der ist so freudenreich“ (#15) aus den Trienter Codices ebenso wie die grandiosen Cantiones aus Böhmen: „Solis praevia“ (#30) und „Danielis prophetia“ (#3).

An den beiden „Resonet in laudibus“ (#11 & 12) Fassungen kann man die Verschiedenheit des einfachen Strophenliedes (St. Gallen) und des vollständig auskomponierten Biciniums (Benediktbeuern) erkennen. Ebenso sollten Stücke wie das „Iure plaudant omnia“ (#25) aus dem „Liederbuch der Anna von Köln“ und das lyrische „Eia, felix virgula“ (#29) aus dem „Glogauer Liederbuch“ in ihrer Gegensätzlichkeit hier nicht fehlen. Daß derartige Texte sich peripher oft noch lange gehalten haben, zeigt z. B. die Vertonung von „Iure plaudant omnia“ noch im Jahre 1629 zu 6 Stimmen und basso continuo durch Johann Stadlmayr (um 1575-1648) in Innsbruck. In den Sammlungen des Michael Praetorius, besonders in seiner „Musae Sioniae“, finden wir viele dieser Texte in lateinischen Vertonungen oder auch deutschen Übertragungen, was auf ihre Beliebtheit und ihren Bekanntheitsgrad schließen läßt.

Auch ein solches Stück wie das „Omnis mundus iocundetur“ (#20) - diese früheste mehrstimmige Fassung stammt aus Böhmen - mit seiner spitzbübisch geschwätzigen Oberstimme, in der der ganze Weihnachtsjubel durchbricht, war für diese Sammlung ein Muß! Ausgelassenheit mit Geist gepaart! Eine deutsche Version ist in der doppelsprachigen Fassung (#19) zu finden.

So sind hier in den 30 Liedern zum Geburtsfest des Herrn die verschiedensten Formen mittelalterlichen Liedes vereint, die aber alle von solcher rhythmischer wie melodischer Erfindungskraft leben, daß sie auch heute noch, gerade in der Blüte der alles verflachenden Weihnachtsgeschäftigkeit, unser Ohr und Herz auf Wesentliches zu richten vermögen.



Zur Aufführung

In formaler Hinsicht legen alle diese Gesänge von den verschiedensten Arten des liturgischen Singens Zeugnis ab. Werden auf eine Melodie verschiedene Strophen gesungen, erinnert uns dieser strophische Vortrag an den Hymnus der Liturgie. Ein solches Gebilde kann im letzten Vers jeder Strophe textlich wie melodisch gleich lauten (siehe #25), und so entsteht bereits eine Art von eingebundenem Refrain. Verselbständigt sich dieser aber, so haben wir das alte Prinzip Strophe - Refrain vor uns, wobei diese Art des Gesangs geradezu das Vorsingen und Nachsingen suggeriert, d.h. den (die) Vorsänger (Solo - Soli) und die Kommunität (Tutti oder Gemeinde) in zwei Klanggruppen teilt. Am schärfsten zu spüren ist dies bei den beiden tonalen Ebenen des Introitus „Puer natus est nobis“, wo die Solisten auf A, die Schola aber auf G singen. So werden liturgischer Introitus und freier Tropus auch tonal deutlich voneinander geschieden. Antiphonales (gegeneinandergestelltes) und responsoriales (antwortendes) Singen sind liturgische, ja kultische Vortragsarten, die sich auch in den Formen früher Mehrstimmigkeit und in der Cantio finden: z. B. die Stücke „Procedentem sponsum“ (#22) und „Kyrie - Rex Mariae“ (#5) ließen sich hier anführen.

Diese formalen Gegebenheiten werden auch durch den Einsatz des Instrumentariums verdeutlicht. Nur bei wenigen Stücken haben Instrumente eine selbständige Aufgabe zu erfüllen, wie dort, so sie einzelne Stimmen im Satz vertreten wie in den Nummern 1, 7, 15, 20, 29. Besonders die Posaune, aber auch Krummhorn und Viole waren dazu bestimmt. Im Normalfall aber tritt das Instrumentarium in alter colla parte-Praxis zu den Singstimmen hinzu, um diese zu unterstützen, ihnen Farbe zu geben und damit den musikalischen Satz auch transparenter zu machen, durch Oktavierungen auch aufzuhellen. Damit wird auch das mittelalterliche Mixturprinzip der Orgel auf den Satz übertragen.

Eine andere Funktion nehmen die Borduninstrumente wie Drehleier und Dudelsack ein, die besonders bei einstimmigen Weisen durch einen Bordunton oder eine Bordunquinte die einfachste und urtümlichste Art von Mehrstimmigkeit erzeugen. Manchmal spielen sie such die Melodien mit oder dienen wie das Trumscheit in #3 der harmonischen Funkion.

Das ganze Schlagwerk vom Tamburin bis zu den Glocken unterstreicht die modale Rhythmik dieser Gesänge. Ohne schlagzeugerische Effekthascherei sollten die Instrumente den Grundrhythmus setzen und die Stücke im Tempo gleichmäßig zusammenhalten. Das diatonische Hackbrett, quasi als Psalterium verwendet, dient dabei sowohl als Schlag- und Borduninstrument wie auch als Melodieträger.

So sollen alle verwendeten Instrumente gleichsam als Vertreter des vielschichtigen Instrumentariums des Mittelalters fungieren und uns ein wenig den Klangfarbenreichtum mittelalterlichen Musizierens vermitteln.

Konrad Ruhland




notes in english






IMAGEN

Goldenes Evangeliumbuch Heinrichs III., Echternach, 1045/1046
fol. 24: Anbetung der Könige
Escorial, Codex Vitrinas 17