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Christophorus CHR 77309
Ⓟ 2008 © 2009
Ad primas vesperas
1. »Deus in adiutorium«
— Antiphona super psalmos »O
quam venerandus« [4:42]
2. Hymnus »O lapsi salus hominis«
[2:38]
3. Antiphona ad Magnificat »Ave
cruor salutaris« — Magnificat [3:42]
Ad matutinas
4. Invitatorium »Qui quos creavit«
— Psalm 95 »Venite exultemus«
[5:49]
In primo nocturno
5. Antiphona »Labentibus
prothoplastis« — Psalm 1 »Beatus vir« [1:49]
6. Antiphona »Dum Christe
constituitur« — Psalm 2 »Quare fremuerunt gentes« [1:33]
7. Antiphona »Insurgentes in
dominum« — Psalm 3 »Domine quid multiplicati sunt«
[1:38]
8. Antiphona »In pace
Christus dormiit« — Psalm 4 »Cum invocarem« [1:38]
9. Antiphona »In domino confidimus«
— Psalm 10 »In Domino
confido« [1:22]
10. Antiphona »Defecit sanctus
moriens« — Psalm 11 »Salvum me fac« [1:23]
11. Responsorium »Serpens ad
fastum« [2:14]
12. Lectio »Sacrosancte dominice«
[2:45]
13. Responsorium »Vere sacratum
sanguinem« [1:45]
14. Lectio »Inclitus martyr«
[3:19]
15. Responsorium »Christi sanguis
sacratissime« [2:42]
In secundo nocturno
16. Antiphona »lngressus sine
macula« — Psalm 14 »Domine quis habitabit« [1:38]
17. Antiphona »Conserva tuos
domine« — Psalm 15 »Conserva me« [1:24]
18. Antiphona »Orbis terrarum
resonet« — Psalm 23 »Domini est terra« [1:24]
19. Antiphona »Novum deo sit
canticum« — Psalm 95 »Cantate Domino« [1:32]
20. Antiphona »Letentur omnes
insule« — Psalm 96 »Dominus regnavit« [1:30]
21. Antiphona »Salvavit sibi
dextera« — Psalm 97 »Cantate Domino« [1:28]
22. Lectio »Post annorum«
[3:30]
23. Responsorium »Te sanctum
sanguinem« [1:27]
24. Lectio »Tempore quo«
[3:22]
25. Responsorium »Sanguis
mirificus Christi« [2:04]
In tertio nocturno
26. Lectio »Ea tempestate«
[3:54]
27. Responsorium »Mustum produxit«
[2:03]
28. Evangelium »Venerunt ergo«
[1:38]
29. Responsorium »Salve vena
salutaris« [1:30]
30. Responsorium »In medio
dominici« [2:00]
Ad laudes
31. Antiphona ad Benedictus »O
gutta sanguinis« — Benedictus [4:22]
Ad secundas vesperas
32. Antiphona ad Magnificat »Sanctus
sanguis iste« — Magnificat [2:47]
Ordo virtutum
Stefan Johannes Morent
Frank Bossert, Hubert Mayer, Stefan Johannes Morent
Jörg Rieger, Daniel Schreiber, Alexander Yudenkov
Verwendete
Handschriften:
Württembergische Landesbibliothek Stuttgart: HB I 240, f. 29r-33r;
HB I 55
Hessische Hochschul- und Landesbibliothek Fulda: Aa 48, f. 100vb-103vb
Badische Landesbibliothek Karlsruhe: Aug. LX
Für tatkräftige Hilfe bei der Übersetzung der
Offiziums-Texte danken wir Herrn Prof. Dr. Felix Heinzer,
Universität Freiburg.
Die Texte der Heilig-Blut-Schriften sowie ihre Übersetzung sind
entnommen:
Norbert Kruse, Die historischen Heilig-Blut-Schriften der
Weingartner Klostertradition, in:
900 Jahre Heilig-Blut-Verehrung in Weingarten 1094-1994. Festschrift
zum Heilig-Blut-Jubiläum am 12. März 1994,
hg. v. Norbert Kruse und Hans Ulrich Rudolf, Sigmaringen 1994, S.
108-118.
Eine Produktion des „Vereins zur Förderung der Musik
Oberschwabens e.V., Biberach/Riss"
und des Südwestrundfunks Studio Tübingen SWR»
lizensiert durch MusiContact mit freundlicher Genehmigung der DA Music,
Diepholz
Producer: Dr. Anette Sidhu-Ingenhoff & Henner Faehndrich
Recording: Südwestrundfunk 2008, Kirche St. Peter & Paul, Berg (Ravensburg)
Recording producer: Siegbert Ernst
Recording engineer: Matthias Neumann
Editor: Joachim Berenbold
English translations: Christopher Cartwright
Cover picture: Raffael: The Mond Crucification, 1502-03 (National
Gallery London)
Booklet cover: Speculum humanae salvationis, Weissenau (?) 1325-30
(Stiftsbibliothek Kremsmünster, Codex Cremifanenesis 243)
(P) 2008 DA Music, Diepholz, Germany 02009 Musicontact GmbH,
Heidelberg, Germany
Manufacturing: Sonopress, Gütersloh —
Made in Germany
English liner notes
Sanguis Jesu Christi
Heilig-Blut-Verehrung im Mittelalter
Bereits aus der Antike ist der Brauch überliefert, das Blut von
Hingerichteten oder von Gladiatoren aufzufangen und ihm magische bzw.
heilende Wirkung besonders bei Augenleiden oder Epilepsie
zuzuschreiben. Auch im Alten Testament wird anlässlich des Auszugs
der Israeliten aus Ägypten die schützende Kraft des
Lammblutes an den Türpfosten beschrieben. In diesem Kontext sind
auch die zahlreichen Erzählstränge zu sehen, die die Bergung
des von Christus am Kreuz vergossenen Blutes überliefern:
Nach einer Variante war es Maria Magdalena, die eine
Heilig-Blut-Reliquie zunächst nach Marseille und dann nach St.
Maximin in der Provence brachte, bevor diese nach Straßburg und
schließlich im 13. Jahrhundert über König Rudolf von
Habsburg in das Prämonstratenserkloster Weissenau in Oberschwaben
kam, wo sie noch heute aufbewahrt wird. Eine andere Erzählung
lässt einige Tropfen des Blutes Christi über Joseph von
Arimathäa nach Fécamp in der Normandie bzw. nach England
gelangen; hier ergeben sich Berührungspunkte mit der
Grals-legende. Eine weitere legendenhafte Erzählung schreibt die
Heilig-Blut-Reliquie Longinus zu, dem durch einen Blutstrahl aus der
Seitenwunde Christi das Augenlicht wieder geschenkt wurde. Longinus
verbrachte die Reliquie nach Mantua, wo sie im 9. Jahrhundert von Papst
Leo III. geborgen wurde und über verschiedene Stationen durch
Judith von Flandern schließlich in das oberschwäbische
Benediktinerkloster Weingarten kam.
Im Mittelalter besaßen auch Zwiefalten, Salem, Zürich und
die Insel Reichenau Heilig-Blut-Reliquien, aber wohl nur Weingarten
baute die Verehrung und den Kult des Heiligen Blutes derart aus; eine
Tradition, wie sie heute noch jedes Jahr anlässlich der Feier des
„Blutfreitags" in Weingarten spürbar wird.
Die große Verehrung der Reliquie vom Heiligen Blut im
Benediktinerkloster Weingarten im Mittelalter schlug sich auch in
poetisch-musikalischen Werken nieder. So entstand Ende des 13.
Jahrhunderts wohl im Auftrag von Abt Hermann von Bichtenweiler in
Weingarten ein Heilig-Blut-Offizium, also eine dichterisch-musikalische
Neugestaltung der Stundengebetszeiten zur Verehrung des Heiligen
Blutes. Das Offizium ist im Kontext der intensiven Bemühungen Abt
Hermanns um eine verstärkte Attraktivität der
Heilig-Blut-Reliquie zu sehen. Das Offizium ist in mittelalterlichen
Handschriften aus Weingarten überliefert, die heute in der
Hessischen Hochschul- und Landesbibliothek Fulda und in der
Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart liegen. Das Offizium,
eine besondere Kostbarkeit und wertvoller Zeuge für die
mittelalterliche Musikkultur Oberschwabens, wurde aber noch nie
vollständig aus den Handschriften übertragen, geschweige denn
aufgeführt.
Der unbekannte Dichter-Musiker griff bei der Gestaltung des Offiziums
auf bereits bestehende Gesänge aus anderen Offizien zurück,
formte dabei aber die Texte neu in Hinblick auf die Verehrung des
Heiligen Blutes. Verweise am Ende der einzelnen Gesänge
zeigen die Vorlagen auf, die u.a. aus Offizien zu Ehren des HI. Papstes
Gregor und der Hl. Maria Magdalena stammen. Mit den Melodien
transportierte der Dichter auch bestimmte theologische Inhalte und
Bedeutungen der Vorlagen-Gesänge in das neu gestaltete Offizium,
das dadurch ein komplexes Beziehungsgeflecht bildet. Die starke
Präsenz der Vorlagen aus dem Gregor-Offizi um könnte darauf
hindeuten, dass das Heil ig-B lut-Fest in Weingarten im Mittelalter das
Gregor-Fest verdrängt haben könnte, also am 12. März
gefeiert wurde, obwohl es hierfür keine Zeugnisse in den
Handschriften gibt. Immerhin werden auch die Auffindung der
Heilig-Blut-Reliquie in Mantua (1048) und ihre Stiftung an das Kloster
durch Judith von Flandern auf den 12. März datiert.
Für die erstmalige Wiederaufführung des Offiziums wurden die
Neumen von Prof. Dr. Stefan Johannes Morent (Universität
Tübingen) aus den beiden Weingartner Handschriften, die
Tonhöhen für die Bezugsgesänge aus dem Zwiefaltener
Antiphonar (Badische Landesbibliothek Karlsruhe, Aug. LX)
Ober-tragen, und somit in einem aufwändigen Prozess das Offizium
in seiner klanglichen Gestalt rekonstruiert. Da Zwiefalten wie
Weingarten zum so genannten Hirsauer Reformkreis gehörte und weder
für das Offizium selbst noch für die Bezugsgesänge in
Tonhöhen lesbare mittelalterliche Handschriften aus Weingarten
vorliegen, ist damit eine möglichst enge Annäherung an die
ursprüngliche musikalische Form des Heilig-Blut-Offiziums
gewährleistet.
Eine weitere offene Frage stellen die für das Offizium vorgesehen
Lesungen dar. Normalerweise wurden bei Offizien zu Ehren von Heiligen
vor den großen Responsorien der Nachtstunden Abschnitte aus deren
Vita bzw. Passio gelesen. Die Handschriften für das Weingartner
Heilig-Blut-Offizium, die beide keine Liturgica im engeren Sinne sind,
machen allerdings keine Angaben über die Lesungen. Ein
Lösungsansatz, den wir auf dieser CD präsentieren,
könnte darin bestehen, die wohl zeitgleich mit dem Offizium und
ebenfalls in der Handschrift aus Fulda überlieferten Texte zur
Geschichte der Auffindung und Überführung des Heiligen Blutes
nach Weingarten gleichsam als „Vita" der Reliquie zu verstehen.
„Lesung" bedeutet im Mittelalter immer auch musikalischer
Vortrag, und so werden die Abschnitte aus den Heilig-Blut-Texten wie
auch das Evangelium nach weit verbreiteten Lektionsmodellen mit
einfacher Mehrstimmigkeit vorgetragen.
Den wesentlichen Teil des Stundengebets bilden die Psalmen; diese
können hier aber höchstens mit wenigen Versen anzitiert
werden. Dies ist vor allem dort unverzichtbar, wo der Dichter des
Offiziums in den Texten der Antiphonen Bezug auf den jeweils folgenden
Psalm nimmt, und damit eine enge Verflechtung schafft.
Der Hörer sei eingeladen, auch in dieser gekürzten Form in
den ursprünglichen Rhythmus aus Psalmodie, Lesung und Gesang
dieser „musikalischen Reliquie" einzutauchen.
Prof. Dr. Stefan Johannes Morent
Sanguis Jesu Christi
The worship of Holy Blood in the Middle Ages
The tradition has been handed down from antiquity that blood collected
from the executed or from gladiators has magical, or rather, healing
properties ascribed to it, particularly with regard to eye complaints
and epilepsy. Even in the Old Testament, the protective power of the
blood of the Lamb on the doorpost is described in connection with the
flight of the Israelites from Egypt. The many narrative threads which
have come down to us about the recovery of blood shed by Christ on the
Cross must be seen in this context.
According to a variant, it was Mary Magdalene who brought a Holy Blood
relic first to Marseille and then to Saint-Maximin in Provence, before
it was brought to Strasbourg and finally, by King Rudolph of Habsburg
in the thirteenth century, to the Premonstratensian monastery at
Weissenau in Upper Swabia, where it is still preserved today. Another
story has some drops of Christ's blood being brought by Joseph of
Arimathea to Fécamp in Normandy and thence to England; from this
arises the connection with the legend of the Grail. Yet another
legend-like story describes the Holy Blood relic of Longinus, whose
eyesight was restored by the stream of blood from the wound in Christ's
side. Longinus brought the relic to Mantua, where it was salvaged by
Pope Leo III in the ninth century, and came by various stages to Judith
of Flanders and finally arrived in the Upper Swabian Benedictine
monastery in Weingarten.
In the Middle Ages Zwiefalten, Salem, Zürich and the Island of
Reichenau also owned Holy Blood relics, but probably only Weingarten
built up the worship and cult of the Holy Blood to a great extent; a
tradition, which even today is demonstrated each year on the occasion
of the ceremony of the "Blutfreitag" in Weingarten.
The great worship of the Holy Blood relic in the Benedictine monastery
at Weingarten in the Middle Ages also found expression in
poetic-musical works. Thus, at the end of the thirteenth century, on
the orders of Abbot Hermann of Bichtenweiler, a Holy Blood Office came
into being in Weingarten, as well as a new poetic-musical layout of the
canonical hours for prayers worshipping the Holy Blood. This Office,
through the intensive efforts of Abbot Hermann, greatly increased the
attractiveness of seeing the Holy Blood relic. The Office comes down to
us in a medieval manuscript from Weingarten, now in the Hessian
University and State Library in Fulda and in the Württemberg State
Library in Stuttgart, and is a particularly precious and valuable
source for the medieval culture of Upper Swabia, which has never been
completely transcribed until now, let alone performed.
The unknown poet-musician, with the layout of this Office, goes back to
chants already existing in other Offices, but uses new texts with them
in view of the worship of the Holy Blood. The patterns of the
individual chants possibly show that they originated, inter alia, from
the Offices in praise of St. Pope Gregory and St. Mary Magdalene. With
the melodies the poet also conveys the particular theological content
and meaning of the chant pattern in the new structure of the Office,
which forms a relatively complex texture. The strong presence of the
patterns of the office for Saint Gregory could indicate that the Holy
Blood festival in Weingarten in the Middle Ages might have driven out
the feast of Saint Gregory, celebrated on the 12th March, although
there is no evidence of that in the manuscript. All the same, the
discovery of the Holy Blood relic in Mantua (1048) and its gift to the
monastery from Judith of Flanders is also dated the 12th March. For
this first revival of the Office the neumes have been transcribed by
Professor Dr. Stefan Johannes Morent (Tübingen University) from
the two Weingarten manuscripts, taking the pitches for the
relevant chants from the Zwiefalten Antiphon (Baden State
Library, Karlsruhe, Aug. LX), and thus, in a complex process, he has
reconstructed the sound of the Office. Since Zwiefalten like Weingarten
belonged to the so-called Hirsauer Reform Group, and neither legible
medieval manuscripts for the Office itself nor pitches for the relevant
chants are available in Weingarten, he has ensured as close an approach
as possible to the original musical form of the Holy Blood Office.
A further open question about the Office appears from the above
reading. Usually, in the Offices in honour of the saints, sections
about their lives or rather their Passion would be read before the
great nocturnal responses. The manuscripts of the Weingarten Holy Blood
Office, neither of which are liturgical in the narrower sense, most
certainly make no statements about the readings. The solution, which we
present on this CD, could lie in the text, contemporary with the office
and likewise handed down in the manuscript from Fulda, about the
history of the discovery and transfer of the Holy Blood to Weingarten
being understood, as it were, as the "life" of the relic. "Reading" in
the Middle Ages always means musical performance as well, and so the
section from the Holy Blood text and also the Gospel, with far wider
lessons, is performed with simple polyphony.
The psalms form the essential part of the prayers for the canonical
hours; these can be quoted here in a few lines at most. This is
especially indispensable, where the poet of the Office, in the text of
the antiphon, takes threads from each succeeding psalm, and creates a
closely interwoven web.
The listener is invited, even with this shortened form, to dip into the
original rhythm of the psalmody, reading and singing of this "musical
relic".
Prof. Dr. Stefan Johannes Morent