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Christophorus CHR 77328
Ⓟ + © 2010
1. Et enim sederunt principes [5:08]
Tropen zum Stephanus-Introitus
2. Sequenz Veni spiritus aeternorum alme [1:37]
Reichenau, 11. Jh.
3. Melodiemodell · Occidentana [4:57]
instrumental
4. Sequenz Pangat ymnum Augiensis [1:27]
De Sancto Ianuario, Rheinau
5. Sequenz Sancti martyris festum [2:36]
De Sancto Marco, Reichenau
6. Georgslied Gorio fuor ze malo [8:02]
mel. Rek. Stefan Morent · Reichenau?, Prüm? 9./10. Jh
7. Melodiemodell · Cignea [4:45]
instrumental
8. BERN VON REICHENAU (um 978-1048). Antiphon Venerandi patris Uodalrici & Magnificat [5:57]
In Evangelium, aus Historia Sancti Uodalrici
9. Invitatorium Adoremus regem Christum & Ps. 94. Venite
exultemus [6:11]
10. Responsorium Beatissimi pontificis [1:50]
In primo nocturno
11. HERMANUS CONTRACTUS,
Hermann der Lahme (1013-1054). Responsorium Miris magnorum [3:17]
Ad primas vesperas, aus Historia Sancti Magni
12. Responsorium Post sancti patris obitum [2:42]
In primo nocturno
13. Responsorium Confessor domini [4:46]
In tertio nocturno
14. HERMANN DER LAHME (?). Marianische Antiphon Salve regina [2:43]
15. Melodiemodell · Puella turbata [2:47]
instrumental
16. Sequenz Cantemus cuncti melodum [3:37]
Süddeutschland, 10. Jh.
17. Walahfried STRABO (808-849). Musa nostrum plange[5:47]
Versus in laude felicis Augiae · mel. Rek. Stefan Morent
ORDO VIRTUTUM
Stefan Johannes Morent
Hubert Mayer, Jörg Rieger, Alexander Yudenkov · Gesang
Susanne Ansorg · Fiedel
Stefan Johannes Morent · Gesang · Harfe ·
Leier · Portativ
In memoriam Andrea von Ramm (1928-1999) |
Instrumente:
Harfe nach romanischen Vorbildern von Reiner Thurau, Wiesbaden 1998
Rekonstruktion der „Trossinger Leier“ von Reiner Thurau, Wiesbaden 2006
Portativ mit Kupferpfeifen nach Theophilus von Louis Huivenaar, Amsterdam 1980/2005
Fiedel in D: Thilo Viehrig, Kaulsdorf 1998, Fiedel in E: Richard Earle, Basel 1997
Verwendete Handschriften:
D-BAs lit. 5 (1, 2, 5, 16) — D-AAd 13 (1) — CH-E 121 (1) — NL-Uu 417 (2, 16)
CH-SGs 342 (1) — CH-SGs 381 (3, 4, 7, 15) — CH-SGs 388 (11-13) — CH-SGs 484 (3, 7, 15)
CH-E 366 (4) — D-Heu Cod. pal. lat. 52 (6) — A-Ws 56 (8-10) — CH-Zz Rh. 81 (8, 9)
D-KA 239 (9, 10) — D-Mu Codex 2° 167 (11-13) — D-Mbs Clm 9921 (14) — I-Rvat Reg. Lat. 469 (17)
Alle Übertragungen aus den Handschriften und Übersetzungen: Stefan Johannes Morent
Eine Coproduktion von MusiContact mit dem Südwestrundfunk Studio Tübingen
SWR »
Executive Producer (Südwestrundfunk): Dr. Anette Sidhu-Ingenhoff
Recording: 4.-7.9.2009, St. Georgskirche, Reichenau
Recording Producer & Editing: Siegbert Ernst
Recording Engineer: Herbert Täschner
Executive Producer (MusiContact): Joachim Berenbold
Cover Picture: “Ankunft des Hl. Pirmin auf der Reichenau“ (17.Jh.), Foto: Theo Keller
Translations: English · Christopher Cartwright & Godwin Stewart / Français · Sylvie Coquillat
Ⓟ + © 2010 MusiContact GmbH, Heidelberg, Germany
Manufacturing: Sonopress, Gütersloh - Made in Germany
English liner notes
Insula felix – Inselkloster Reichenau
Geistig-kulturelles Zentrum des mittelalterlichen Europa
von Prof. Dr. Stefan Johannes Morent
„Insula felix – augia felix“, Glückliche Insel,
glückliche Aue – so besingt Walahfried Strabo im 9.
Jahrhundert in einem seiner berühmten Gedichte, dem Metrum
saphicum, sein geliebtes Inselkloster sehnsüchtig aus der
Ferne, als er zur Ausbildung in Fulda weilt. Und die Reichenau war
zusammen mit St. Gallen wirklich ein Hort der Wissenschaft und Kunst,
eine Wiege der europäischen Kultur im Bodenseeraum. Hier wie dort
blühten Choral, Dichtung und Buchmalerei. Im Gegensatz zum
Galluskloster wurden allerdings die Handschriftenschätze, die
einst Reginbert, der berühmte Klosterbibliothekar hütete, in
alle Winde zerstreut. So ist es der Forschung erst in den letzten
Jahren gelungen, die Musikkultur des Inselklosters wieder
annäherungsweise zu rekonstruieren. Diese CD stellt erstmalig den
Versuch dar, ein Programm nur mit Musik aus dem Kloster Reichenau bzw.
mit in engster Beziehung zu ihm stehender Musik zu gestalten. Hierzu
wurden zahlreiche Handschriften herangezogen und neu transkribiert.
Neben dem Gregorianischen Choral, der Messe und Stundengebet
prägte, bestand die Musikkultur der Reichenau in ihrer
Blütezeit, wie auch in anderen Klöstern des frühen
Mittelalters, vor allem aus schmückenden Beifügungen zu
diesem feststehenden Repertoire. So genannte Tropen, d.h. textliche
und/oder musikalische Erweiterungen des Chorals, erlaubten einen
dichterisch-musikalischen Kommentar zum traditionellen liturgischen
Gesang. So aktualisieren die in ihrer hier vorgetragenen Reihung wohl
eine Reichenauer Tradition repräsentierenden Tropen zum Introitus
des Stephanus-Festes mit ihrem mehrfachen „Hodie“ das
Festgeheimnis des ersten Märtyrers ins Hier und Jetzt. Daneben
boten vor allem die Sequenzen Raum für den
dichterisch-musikalischen Ausdruckswillen des mittelalterlichen
Mönchtums. Die Pfingstsequenz Veni spritus aeternorum alme,
die der Reichenau zugewiesen wird, verwendet den Beginn des
Melodiemodells mit dem Namen Occidentana, das der berühmte
Notker der Stammler im Nachbarkloster St. Gallen seiner Pfingstsequenz Sancti
spiritus assit nobis gratia zugrunde legte. Solche Modellmelodien,
wie auch die mit dem Namen Cignea, tauchen in den westund
ostfränkischen Sequentiaren, wie der Reichenauer Handschrift
Bamberg Staatsbibl. lit. 5, auf und existierten offensichtlich auch
losgelöst von Texten bzw. ihnen konnten verschiedene Texte
angepasst werden, weshalb wir sie auf dieser Aufnahme auch in
instrumentalen Versionen als einer möglichen Vortrags-Option
vorstellen.
Unter den im Laufe des Kirchenjahres gefeierten Heiligen waren vor
allem diejenigen von größter Bedeutung, von denen ein
Kloster Reliquien besaß; auf ihnen gründete sich
Selbstverständnis, Ansehen und Ruhm einer Klostergemeinschaft.
Für die Reichenau sind hier neben anderen die Heiligen Marcus,
Ianuarius und Georg zu nennen, die mit eigenen Kompositionen und
Dichtungen entsprechend gefeiert wurden. Die Ianuarius-Sequenz Pangat
ymnum Augiensis ist zwar im Kloster Rheinau entstanden (einer
weiteren klösterlichen „Aue“), findet sich aber im
Reichenauer Sequentiar D-BAs lit. 5. Dem Evangelisten Marcus zu Ehren,
dessen Reliquien heute noch in einem wertvollen Schrein auf der
Reichenau bewahrt werden, entstand im Inselkloster die Sequenz Sancti
martyris festum. Der Kult des Heiligen Georg wurde von Abt Hatto
auf der Reichenau eingeführt, der ihm um 888 die cella et
basilica Sancti Georgii errichtete (in der diese CD aufgenommen
wurde) und später als gleichzeitiger Erzbischof von Mainz 896 eine
Kopf-Reliquie des Märtyrers erlangen konnte. Das althochdeutsche Georgslied,
die älteste Heiligendichtung in deutscher Sprache, wird zwar heute
von der Wissenschaft nicht mehr der Reichenau, sondern dem
mittelfränkischen Raum, vielleicht Prüm, zugesprochen.
Trotzdem hat es wegen der starken Bedeutung der Georgsverehrung auf der
Reichenau seine Berechtigung bei unserer Einspielung. Es entstand wohl
im 8./9. Jahrhundert und wurde im 10. Jahrhundert in den berühmten
Otfried-Codex eingetragen. Da keine Musik hierzu überliefert ist,
griffen wir im Sinne einer Rekonstruktion auf Melodiemodelle verwandter
Lieder, wie des althochdeutschen Petrus-Liedes, zurück.
Von der großen Schar anonymer Dichter-Musiker der Reichenau, wie
des gesamten Mittelalters, setzen sich zwei Persönlichkeiten
besonders ab: Bern von Reichenau, der dem Inselkloster von 1008 bis
1048 als Abt vorstand und Hermann der Lahme. Bern leitete nicht nur das
Kloster, sondern war auch als Musiktheoretiker, Dichter und Komponist
tätig. Erhalten ist uns u.a. sein Ulrichs-Offizium, eine
dichterische Gestaltung des Stundengebets am Festtag des Heiligen, das
Bern wohl zu Beginn seines Abbatiats für sein eigenes Kloster
verfasste, das aber auch in Beziehung zum Kloster St. Afra in Augsburg
steht. Sein Schüler, der schwerbehinderte, geniale Mönch
Hermannus Contractus (Hermann der Lahme, 1013-1054), war lange Zeit nur
als Historiker und Musiktheoretiker bekannt, inzwischen sind aber auch
einige seiner umfangreichen Kompositionen auf Heilige des
süddeutschen Raumes wieder entdeckt worden. Hier erklingen
Ausschnitte aus Hermanns Offizium auf den Heiligen Magnus, aber
auch seine wohl berühmteste und gleichzeitig umstrittenste
Komposition, das Salve Regina. Bis heute konnte die Autorschaft
Hermanns für Text und/oder Melodie dieser Marianischen Antiphon
nicht zweifelsfrei bestätigt werden. Jedenfalls scheint die
bekanntere dorische Melodie eher im aquitanischen Raum entstanden zu
sein, während die unbekanntere E-Melodie, die wir hier vorstellen,
nur in einer Handschrift aus Ottobeuren überliefert ist, und damit
der süddeutschen Heimat Hermanns ungleich näher steht.
Insula felix – Reichenau, the island monastery
A spiritual and cultural centre in medieval Europe
by Prof. Dr. Stefan Johannes Morent
“Insula felix – augia felix”, fortunate island
– fruitful island: ... so Walahfried Strabo sings in the ninth
century in one of his most famous poems, the Metrum saphicum,
longing for his beloved island monastery from afar, while he stays in
Fulda for his education. And Reichenau, together with St. Gallen, was
truly a stronghold of science and art, a cradle of European culture in
the Lake of Constance. In both places chant, poetry and illumination
flourished. In contrast to the Abbey of St. Gall, however, the
manuscript treasures, which had in the past been guarded by Reginbert,
the famous monastery librarian, were scattered to the four winds. So it
is research in recent years which has achieved for the first time an
approximate reconstruction of the musical culture of the island
monastery. This CD shows for the first time the attempt to devise a
programme solely from music of the Reichenau monastery or music most
closely connected with it. To this end many manuscripts have been
consulted and newly transcribed.
With Gregorian Chant, used for Mass and the Office, the musical culture
of Reichenau in its heyday, as in other monasteries of the early Middle
Ages, continued to exist above all for the embellishment of this
well-established repertoire. So-called tropes, i. e. textual and/or
musical expansion of the Chant, allow a poetic-musical commentary on
the traditional liturgical chant. So the tropes for the introit of the
Feast of St. Stephen, probably representing a Reichenau tradition in
their order of performance, bring the mystery of the feast for the
first martyr into the here and now. In addition, the sequence above all
offered room for the poetic-musical expression wished for by medieval
monasticism. The Whitsun sequence Veni spiritus aeternorum alme,
which was attributed to Reichenau, used the beginning of the melody
model called Occidentana, which the famous Notker the
Stammerer, in the neighbouring St Gallen monastery, had used to form
the basis of his Whitsun sequence Sancti spiritus assit nobis gratia.
Such melody models, including the one called Cignea, appeared
in the West and East Frankish sequentiaries, like the Reichenau
manuscript, Bamberg Staatsbibl. Lit. 5, and they clearly also existed
detached from a text, or could be fitted to different texts, which is
why we have also presented them, in this recording, in instrumental
versions as a possible performance option.
Among the saints celebrated in the course of the church year, those
whose relics are held by a monastery were above all the most important;
on them rested the self-image, reputation and fame of a monastic
community. For Reichenau there can be mentioned St. Marcus, St.
Januarius and St. George among others, who were appropriately
celebrated with dedicated compositions and poems. The Januarius
sequence Pangat ymnum Augiensis had actually originated in the
Rheinau monastery (another monastic „island“), but is found
in the Reichenau sequentiary D-BAs lit. 5. In honour of the Evangelist
Marcus, whose relics are even today protected in a precious shrine on
the Reichenau, the sequence Sancti martyris festum originated
in the island monastery. The cult of St. George was established in the
Reichenau by Abbot Hatto, who erected for it the cella et basilica
Sancti Georgii (in which this CD was recorded) around 888, and
later, as Archbishop of Mainz at the same time, he was able to obtain a
head relic of the martyr in 896. The Old High German Georgslied,
the oldest poem in honour of a saint in the German language, is
actually today no longer scientifically assigned to Reichenau, but to
the Middle Franconian region, perhaps Prüm. Nevertheless, it is
entitled to be in our recording owing to the great importance of the
worship of St. George in the Reichenau. It certainly dates from the
eighth/ninth century, and appears in the famous tenth century Otfried
Codex. Moreover, since no music has been handed down, we have fallen
back on a reconstruction from melody models of kindred hymns, such as
the Old High German Petrus Hymn. The performance is accompanied by a
copy of the so-called „Trossingen Lyre“, that sensational
discovery several years ago of an almost complete lyre surviving from
the late sixth century. Instruments of this kind must also have still
been in use in the tenth century.
From the great crowd of anonymous poet-musicians of the Reichenau,
indeed from the whole Middle Ages, two personalities stand out
particularly: Bern von Reichenau, who was Abbot of the island monastery
from 1008 to 1048, and Hermann the Lame. Bern not only headed the
monastery, but was also active as a music theorist, poet and composer.
There has come down to us, among other things, his Office for St.
Ulrich, a poetic arrangement of the Office for the feast days of the
saints, which Bern had written at the beginning of his Abbotship for
his own monastery, but which is also connected with the monastery of
St. Afra in Augsburg. His pupil, the severely handicapped, genial monk
Hermannus Contractus (Hermann the Lame, 1013-1054), was for a long time
known only as an historian and music theorist, but, meanwhile, several
of his extensive compositions for saints of the South German region
have been rediscovered. On this recording, excerpts from
Hermann‘s Office for St. Magnus, but also from what is
clearly his most famous and, at the same time, his most controversial
composition, the Salve Regina, are heard. Until now,
Hermann‘ s authorship for the text and/or the melody of this
Marian Antiphon has not been definitely established. In any case, the
better-known Doric melody appears to have emerged earlier from the
Aquitaine region, while the lesser-known melody in E, which we present
here, has only been handed down in a manuscript from Ottobeuren, and is
therefore much nearer Hermann‘s South German homeland.