Hameln Anno 1284. Auf den Spuren des Rattenfängers
Medieval Flute Music on the trail of the Pied Piper
/ Norbert Rodenkirchen





christophorus
Christophorus CHR 77359

2012






WIZLAW III. VON RÜGEN (1265/68-1325)
1. Der unghelarte hat ghemachet eyne senende wise · Leich [4:02]
2. Nach der senenden claghe [4:27]
3. De voghelin untphat des lechten meyien scin / Od zielonego gaju · trad., altslawisch [3:20]

ANONYM
4. In dem ungelarten [2:56]
5. O Maria virgineis · Conductus [3:26]
6. Lai de la Pastourelle [4:19]

WIZLAW III. VON RÜGEN
7. I warne dich, vil junger man [4:26]
8. Ich han gedacht · Rondellus [1:59]

PETER VON AHRBERG
9. Graff peters große tagewyse [6:20]

WIZLAW III. VON RÜGEN
10. Bist du in der minne dro [4:39]

MEISTER ALEXANDER (Mitte/Ende 13.Jh)
11. Myn trurichlichiz klagen · Minneleich [5:41]

12. Pora maty zyto · trad., altslawisch [4:05]
Improvisation über slawische Tanzweisen

FRAUENLOB (1250/60-1318) / REGENBOGEN (?- c.1320)
13. Prueffwyse / Kupalatanz · trad., altslawisch [6:07]

WIZLAW III. VON RÜGEN
14. Der unghelarte hat ghemachet eyne senende wise · Leich [2:52]







Norbert Rodenkirchen, mittelalterliche Traversflöten
Giuseppe Paolo Cecere, Symphonia, Fidel, Psalterium, Laute
Wolfgang Reithofer, Perkussion




Quellen: Wizlaw III von Rügen / Meister Alexander: Jenaer Liederhandschrift
Anonym #4 / Peter von Ahrberg / Frauenlob/Regenbogen: Kolmarer Handschrift
Anonym #5, 6: Egerton Chansonnier
Altslawische Melodien & Tänze: Polish folk music, Slavonic heritage (...), Anna Czeskanowska, Cambridge Univ. Press



Executive producer: Joachim Berenbold   
Recording: 20.-21.12.2011, W*A*R Studio, Vienna
Recording producer & digital editing: Elisabeth & Wolfgang Reithofer



English liner notes








HAMELN ANNO 1284
Auf den Spuren des Rattenfängers


Im Jahre 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch an, weshalb er Bunting soll geheißen haben. Er gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien, Die Bürger wurden mit ihm einig und versicherten ihm einen bestimmten Lohn. Der Rattenfänger zog danach ein Pfeifchen heraus und pfiff. Da kamen alsbald die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wäre keine zurück geblieben, ging er aus der Stadt hinaus an die Weser; dort schürzte er seine Kleider und trat in das Wasser, worauf ihm alle Tiere folgten, hineinstürzten und ertranken.

Nachdem die Bürger aber von ihrer Plage befreit waren, reute sie der versprochene Lohn, und sie verweigerten ihn dem Mann unter allerlei Ausflüchten, so dass er zornig und verbittert wegging.

Am 26. Juni auf Johannis- und Pauli-Tag, morgens früh um sieben Uhr, nach anderen zu Mittag, erschien er wieder, jetzt in Gestalt eines Jägers erschrecklichen Angesichts mit einem roten, wunderlichen Hut und ließ seine Pfeife in den Gassen hören. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein, vom vierten Jahre an, in großer Anzahl gelaufen, worunter auch die schon erwachsene Tochter des Bürgermeisters war. Der ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand. Dies hatte ein Kinder-Mädchen gesehen, welches mit einem Kind auf dem Arm von fern nachgezogen war, danach umkehrte und das Gerücht in die Stadt brachte. Die Eltern liefen haufenweise vor alle Tore und suchten mit betrübtem Herzen ihre Kinder, die Mütter erhoben ein jämmerliches Schreien und Weinen, aber alles war vergeblich. Es waren im ganzen hundertdreißig verloren.

Zwei sollen, wie einige sagen, sich verspätet haben und zurückgekommen sein, wovon aber das eine blind, das andere stumm gewesen, also, das blinde den Ort nicht hat zeigen können, aber wohl erzählen, wie sie dem Spielmann gefolgt wären; das stumme aber den Ort gewiesen, obgleich es nichts gehört hatte. Ein Knäblein war im Hemd mitgelaufen und kehrte um, seinen Rock zu holen, wodurch es dem Unglück entgangen; denn als es zurückkam, waren die andern schon in der Grube eines Hügels verschwunden, Die Straße, wodurch die Kinder zum Tor hinausgegangen, heißt noch heute die bunge-lose (trommel-tonleise, stille) weil kein Tanz darin geschehen noch Saitenspiel durfte gerührt werden. Der Berg bei Hameln, wo die Kinder verschwanden, heißt der Koppenberg (alte Bezeichnung für den nördlichen 1th). Einige sagen, die Kinder wären in eine Höhle geführt warden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen.

aus: Brüder Grimm "Deutsche Sagen"



So lautet die Sage nach den Gebrüdern Grimm. Der historische Kern dieser Sage lässt sich heute nicht mehr konkret nachweisen, die Sage findet sich aber in verschiedenen Quellen. So heißt es in einem lateinischen Pastorale des 14. Jahrhunderts:

[...] 1284 ist das Jahr, wo beiderlei Geschlecht dahinschwindet, das Jahr des Tages Johannis und Pauli, der die 130 lieben Hamelner Knaben nicht ohne Verhängnis hinwegraffte. Es wird gesagt, Calvaria habe sie alle lebendig verschlungen. [...] Im Jahre 1284, am Tage Johannis und Pauli, verloren die Hamelner Bürger 130 Knaben, die in den Kalvarienberg eintraten. [...]

Und eine Lüneburger Handschrift aus dem 15. Jahrhundert beschreibt auf Latein:

Zu vermelden ist ein ganz ungewöhnliches Wunder, das sich im Städtchen Hameln in der Mindener Diözese im Jahre des Herrn 1284 genau am Tage Johannis und Pauli ereignet hat. Ein junger Mann von dreißig Jahren, schön und überaus wohl gekleidet, so dass alle, die ihn persönlich sahen, auch seine Kleidung bewunderten, trat über die Brücke und durch die Weserpforte ein. Er hatte eine mit Silber verzierte Querpfeife (Festula) von seltsamer Art dabei und begann flötend durch die ganze Stadt zu schreiten. Und alle Knaben, die jene Querpfeife hörten — etwa 130 an der Zahl — folgten ihm aus dem Ostertor hinaus zum Kalvarien- oder Hinrichtungsplatz. Sie zogen fort und verschwanden, so dass niemand erfahren konnte, wo auch nur einer von ihnen geblieben war. Die Mütter der Knaben liefen von Stadt zu Stadt und fanden überhaupt nichts.
[...] Und wie gezählt wird nach Jahren des Herrn 1.4, so zählen sie in Hameln nach dem ersten, zweiten, dritten Jahr nach dem Auszug und dem Verschwinden der Knaben. Dies fand ich in einem alten Buch. Und die Mutter des Herrn Dechanten Johann von Lüde sah die Knaben fortziehen.


Gesichert kann heute gelten, dass es sich ursprünglich um eine Kindervertreibungssage handelte, die erst später mit einer Rattenvertreibungssage verwoben wurde. Zum Kinderauszug aus Hameln gibt es die verschiedensten Theorien, wobei die Deutung, dass es sich dabei um die im Mittelalter von Niederdeutschland ausgehende Ostkolonisation handelt, die genau zur Zeit der Legende ihren Höhepunkt fand, die wahrscheinlichste ist. Adelige Territorialherren im Osten warben um Siedler für ihr Land und es dürfte sich bei den „Kindern von Hameln" um Jungbürger und junge Familien gehandelt haben, die nach Osten aussiedelten. Auswanderer hatten die Angewohnheit, die neu besiedelten Orte mit Namen aus der alten Heimat zu bezeichnen und so lassen sich Querverbindungen von Hameln beispielsweise nach Brandenburg, aber auch nach Pommern und Polen nachweisen.

Der Rattenfänger mag in Wirklichkeit also eher ein Werber gewesen sein, der für die Übersiedlung junger, tatkräftiger Menschen in den Osten warb. Verbunden wird diese Figur gleichzeitig mit der eines dämonisch anmutenden fahrenden Musikers mit Querpfeife (festulator), der in Hameln am Johannistag, dem 26. Juni 1284 die Heranwachsen-den mit magischen Tönen aus der Stadt „lockte".

Norbert Rodenkirchen widmet sich in diesem Programm dem Versuch, den Vortrag eines fahrenden Flötenspielers im späten 13. Jahrhundert zu rekonstruieren. Er orientiert sich dabei unter anderem an den Tönen und Weisen der deutschen Minnesänger des 13. Jahrhunderts, also an einem modalen Genre, das einerseits aus der französischen Trouvères-Tradition übernommen worden war, das sich andererseits aber auch teilweise auf germanische Einflüsse zurückführen lässt. Ebenso bezieht er sich auf die lange Entwicklungslinie der besonderen Melodik des Lai, Leich oder (althochdeutsch) Laikaz, die eine der wichtigsten Quellen der weltlichen Musik (auch instrumental) im Mittelalter darstellt. Klagende und tänzerisch-spielmännische Melodiephrasen sind in der Lai-Melodik oft auf unvergleichliche Art und Weise zu einer Einheit verwoben und in den Texten finden sich interessante Hinweise auf mittelalterliches Instrumentalspiel. Zudem zeigt sich in der formalen Anlage eine interessante Übereinstimmung mit den leider nur spärlich überlieferten, rein instrumentalen Estampien, die ursprünglich wohl über Motive der Lai-Tradition improvisiert und nur selten aufgeschrieben wurden.

Die besondere zeitliche und regionale Nähe zum Kontext des Flötenspielers in Hameln führte Norbert Rodenkirchen auf die Spuren des Sängers Wizlaw III., Prinz und späterer Fürst von Rügen aus slawischem Adelsgeschlecht. Wizlaw wurde 1265 oder 68 geboren, starb am 8. November 1325, und steht in enger Beziehung zum mysteriösen Musiker „Der unghelarte" (Der Ungelehrte) aus Stralsund, der vermutlich Wizlaws musikalischer Lehrer war und auf dessen „senende wise"
(sehnende Weise) sich Wizlaw in einem seiner Lieder direkt bezieht.


Für den Zusammenhang mit dem Hamelner Auszug ist Wizlaw insofern interessant, als mit seinem Liedschaffen ein reichhaltiges musikalisches OEuvre aus dem gleichen zeitlichen und geographischen Kontext vorliegt. Wizlaws Werk besticht durch eine außergewöhnlich reife Melodieformung, welche eine große Eigenständigkeit innerhalb des deutschen Minnesängerrepertoires aufweist. Schlichte pentatonische Weisen von berückender Schönheit sind ebenso vertreten wie melismatisch wunderbar ornamentierte Melodien, archaisch tänzerische und klagend sehnsuchtsvolle Stücke teilweise in fremdartigen Tonarten, welche oft nicht mit den damals üblicherweise verwendeten mittelalterlichen Modi übereinstimmen und eventuell auf altslawische Einflüsse verweisen. Für das vorliegende Programm von besonderer Bedeutung ist das melodische Zitat einer Melodie des Unghelarten im Laich „Der unghelarte hat ghemachet eyne senende wise". Durch den weiteren Text („davon lide ich groze not er ich darnach singhe so ghetan eyn done") stellt Wizlaw klar, dass er in großer Not über die vom Unghelarten komponierte sehnende Weise singt und so einen Ton (ein Lied) hervorbringt — die Lebensspanne von Wizlaws musikalischem Mentor entspricht genau der Zeit, die wir auch für den Rattenfänger annehmen dürfen. Auch wenn der Zusammenhang reine Hypothese ist: Wohl kaum eine andere mittelalterliche Melodie als die „sehnende Weise des Ungelehrten" kann näher an den historischen Kontext der Rattenfängerereignisse heranführen, daher erscheint sie auf dieser CD zweimal als einrahmendes Element.

Zusätzlich in das Programm eingewoben sind Adaptionen altslawischer Weisen aus dem Ostseeraum für Flöte. Sie stammen aus dem Gebiet des heutigen nördlichen Polen, welches zusammen mit Pommern und Rügen als wahrscheinliches Ziel des Hamelner Auszugs angesehen werden darf. Hierbei spielt der Kontext des Kupala-Tanzes, also der rauschhaft orgiastischen Verehrung des Fruchtbarkeitsdämons zur Sommersonnenwendfeier eine besondere Rolle.


Die historischen Textquellen zum Hamelner „Exitus puerorum" deuten auf einen charismatischen Musiker hin, dessen Faszination durch sein fremdartiges Auftreten und seine exotisch wirkende Musik bestimmt gewesen sein dürfte. Das hier aufgenommene Flötenprogramm „Auf den Spuren des Rattenfängers" basiert auf intensiven musikwissenschaftlichen Recherchen in Bezug auf die mittelalterlichen Monodien der Minnesang-Tradition des 13. Jahrhunderts und auf die altslawische Musik des Ostseeraumes. Dennoch ist es kein reines Projekt der historischen Aufführungspraxis. Es geht ebenso um künstlerische Imagination, um das Hervorrufen der verführerisch wirkenden Klangmagie des unheimlichen Pfeifers, um seine hypnotischen Flötenweisen, um archaische Improvisationen, tranceartige Rhythmen und um Anklänge an Musik aus fernen Ländern. Es geht also auch um den zu allen Zeiten unwiderstehlichen Klang der Fremde.


Die mittelalterliche Traversflöte (auch Schwegel genannt), ein zylindrisches Rohr mit 6 Grifflöchern, ist der Urtypus der Querflöte, wie er schon in der Antike als Hirteninstrument oder im Zusammenhang mit der Begleitung von Dichtkunst auftaucht. In spätantiken Analogien stand die Querflöte auch für eine Kommunikation mit der jenseitigen Welt. Über Byzanz kam dieser Flötentypus nach Zentraleuropa und blieb dort bis zur Renaissance im Prinzip unverändert. Im Gegensatz zu den Traversflöten der Renaissance hatten die mittelalterlichen Modelle jedoch eine pythagoräische Stimmung mit reinen Quinten und Quarten und waren ferner nicht — wie in den folgenden Epochen — systematisch in Consortium-Familien (Bassus bis Discantus) eingeteilt. Zu allen Zeiten lag die Ausdrucksqualität der Traversflöte sowohl im Bereich des Lyrisch-Kontemplativen, als auch durch ihre perkussiven Artikulationsmöglichkeiten im Bereich des Rhythmisch-Ekstatischen. Von allen Instrumenten ist der Klang der Flöte der menschlichen Stimme am nächsten und zeichnet sich somit durch eine quasi vokale Qualität aus. Hiermit war und ist sie in der Lage, wesentliche Aspekte mittelalterlicher Musik authentisch zum Erklingen zu bringen.