Minnesang und Spruchdichtung
Lukas Richter (1971)








Minnesang und Spruchdichtung

Hochaufragende, rhythmisch gegliederte Kirchen, dunkel glühende Glasfenster, phantasievoll durchgebildete Schnitzaltäre, sanft geschwungene Madonnenstatuen, groteske Wasserspeier — das etwa pflegt man mit dem Stichwort „Gotik“ zu assoziieren. Man denkt an die Kathedralen von Chartres, Reims, Amiens, Paris, an die Dome von Magdeburg, Straßburg, Freiburg, Köln, an alte Stadtmauern. In den gotischen Sakralbauten vereinigten sich Architektur, Bildhauerei, Malerei und Kunsthandwerk zu einem Gesamtkunstwerk, das noch durch liturgische Gesänge und Mysterienspiele bereichert wurde. Gleich den Naumburger Stifterfiguren, den Farbfenstern von Chartres, den Fresken Giottos mögen einige Literaturdenkmäler jener Epoche bis zur Gegenwart wirken : Parzival und Tristan, der Roman de la Rose und Aucassin et Nicolette, die Carmina burana, der Sonnengesang des Franziskus von Assisi, Dantes Divina Commedia. Was aus ihnen nur teilweise ersichtlich ist, führen kulturgeschichtliche Zeugnisse detaillierter vor. Betroffen wird man den Spannungen der Zeit konfrontiert, in der die weltlichen und geistlichen Feudalherren sich unaufhörlich befehdeten, sozial-religiöse Revolten ausbrachen, einer Zeit, in der die Menschen den Krankheiten und Seuchen wehrlos ausgeliefert waren, die von Dämonenfurcht und Massenhysterie erbebte. Zu ihrer Signatur gehören ebenso höfischer Frauendienst und mystische Marienverehrung wie die Greuel der Ketzerverbrennungen und Judenpogrome. Keineswegs überhitzte Phantasie der Maler, sondern furchtbare Realität war das, was die Heiligenviten abbildeten. All diese Marterszenen wurden tatsächlich praktiziert, innerhalb der geltenden Rechtsordnung. Kaum darstellenswert erschien den Künstlern jener Zeit der alltägliche Fron-dienst der hörigen Bauern. Die feudale Hierarchie galt als gottgewollte ewig unveränderbare Ordnung. Die „große“ Politik des 12. bis 14. Jahrhunderts stand im Zeichen der von den christlichen Feudalherren geführten Kreuzzüge zur Eroberung des Orients und der Auseinandersetzungen zwischen dem deutschen Kaiser und dem Papst um die Vorherrschaft in Westeuropa, wobei die Machtkonstellationen von der Parteinahme der französischen und englischen Krone abhingen. Während sich die staufischen Herrscher in Italien stark engagierten und schließlich doch scheiterten, vermochten die deutschen Reichsfürsten ihre Positionen zu stärken.

Zur Stütze der Zentralgewalt wurden die Ministerialen, ursprünglich unfreie Kriegs- und Verwaltungsbeamte; mit ihrer Nobilitierung entwickelte sich der Feudaladel zu einem geschlossenen Stand. Etwa 10 000 Burgen auf deutschem Boden gab es, von denen Ritter die umliegenden Dörfer beaufsichtigten.

Unterdessen waren mit fortschreitender Arbeitsteilung Städte als Handels- und Gewerbezentren entstanden und suchten sich von Bevormundung der Stadtherren zu befreien. Die WareGeld-Beziehung durchsetzte die Naturalwirtschaft auch auf dem Lande. Neben Klöstern, Domen und Burgen erhoben sich allmählich Rathäuser und Patrizierbauten.

Die bürgerliche Dichtung stand allerdings noch lange im Schatten der ritterlichen, die sich zuerst in Südfrankreich, der Kontaktzone zur islamischen Welt Spaniens, entwickelt hatte und in der Stauferzeit auch in Deutschland zur Blüte kam. Ihr Ziel war die überhöhte Darstellung des feudalen Standesideals in Minnesang und höfischem Epos.

Gegenüber der Emanzipation der weltlichen Stände verstärkte die Kirche ihre Aktivität durch Bereicherung des Gottesdienstes, durch neue Feste, durch Heiligen- und Marienverehrung und damit intensiven Bilder- und Reliquienkult. Zur Unterdrückung ketzerischer Untergrundbewegungen begründete sie die Inquisition und stiftete die Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner, die sich der religiösen „Volksseelsorge“ widmeten und die geistige Vorherrschaft in Schulen und Universitäten sicherten. Den bildungsprivilegierten Schichten Geistlichkeit, Adel und Bürgertum erschienen die Kunstäußerungen der breiten Massen suspekt, daher wurden die brauchgebundenen Lieder des Landvolkes nicht aufgezeichnet. Am tiefsten in der sozialen Rangfolge standen die wandernden Spielleute, unentbehrliche Mittler zwischen Volksmusik und Gebildetenmusik.

In ritterlichen Minnesang bietet sich uns die früheste yolks-sprachige weltliche Lyrik der europäischen Nationalliteraturen dar. Erstmals erscheint eine durch Tondenkmäler direkt dokumentierte Kunstäußerung eines weltlichen Standes, die sich neben dem kanonischen Gesangsrepertoire der Kirche zu behaupten vermag. Ihren Namen erhielt sie vom höfischen Minnedienst.

(Die Beziehung zwischen dem ritterlichen Dichter und seiner „frouwe“ — meist die Gattin seines Lehnsherren — ist das Spiegelbild der Feudalbeziehung zwischen Lehnsherren und Belehntem. Der Dichter „dient“ mit seinem Lob der frouwe, die ein mit allen Vorzügen ausgestattetes Idealbild einer Frau ist [bezeichnenderweise wird in den Liedern nie ein Name genannt], für den Werben den aber unerreichbar bleibt.
Neben dieser sogenannten „hohen“ Minne gab es auch die „ebene“ [oder „niedere] gegenseitige Minne, die erlebte Liebe zur nichtadligen, unverheirateten Frau. Dichtungen, in denen sie Gegenstand ist, zeichnen sich durch oft volksliedhafte Schlichtheit, Frische und Musikalität aus [„Under der linden“, „Herze-liebes vrouwelinl . Das „Tagelied“ scheint eine Obergangsform darzustellen. — Die Red.)

Neben dem eigentlichen Minnesang mit den psychologisch vielfältig abgewandelten Grundmotiv des hoffnungslosen Sehnens nach Erhörung stehen Rollen- und Szenenlieder: das Tagelied, das die Vereinigung eines Liebespaares bis zum Morgengrauen und dem Wächterruf schildert, die Pastourelle, die die Begegnung von Ritter und Landmädchen besingt, sodann das Tanzlied mit höfischem oder dörflichem Hintergrund. Im Kreuzfahrerlied ruft der Dichter zum Kreuzzug auf oder erinnert sich während des Kreuzzuges der Geliebten. Religiöse, lehrhaft moralische oder politisch-aktuelle Themen, Lebensweisheiten, Zeitkritik oder Bitten an Gönner bildeten den Inhalt des Spruchgedichtes, dessen Träger gewöhnlich nicht dem Ritterstand entstammten, sondern Fahrende oder Bürger waren. Als Hauptformen der höfischen Lyrik unterscheidet man das Lied in gleich gebauten, durchgereimten oder dreigliedrigen Strophen, den in paarigen Versgruppen der Sequenz entsprechenden Leich, schließlich den in Reimpaaren rezitierten oder in Strophen gesungenen Spruch. Herausgewachsen ist der mittelhochdeutsche Minnegesang aus der Lyrik der (vielleicht von arabischer Poesie inspirierten) provençalischen Troubadours, die auf die nordfranzösischen Trouvères ausstrahlte; er lehnt sich aber auch an den gregorianischen Choral, die mittellateinische Vagantendichtung und das deutsche Volkslied an. Die Wurzeln des Spruchgesanges reichen zum volkstümlichen Sprichwort und germanischen Zauberspruch zurück.

Zur ältesten musikalischen Überlieferung des deutschen Minnesangs gehören die linienlosen, daher kaum übertragbaren Namen der Carmina burana, inmitten lateinischer Lyrik aus Kleriker-und Vagantenkreisen einzelne deutsche Minnelieder enthaltend. Gegenüber der Fülle französischer Chansonniers mit Melodien finden sich in Deutschland nur wenige Handschriften, die zu den Texten auch Noteneintragungen bringen, jedoch weit mehr zu Sprüchen und Leichen als zu eigentlichen Liedern. Da aus der Blütezeit kaum Weisen überkamen, suchte man Melodien früher Minnesänger aus Kontrafakturen, d. h. Übernahmen einer bestehenden Singweise durch andere Dichter, zu erschließen, da jene vermutlich bei Nachahmung romanischer Texte mit dem Versbau auch die Weisen der Vorbilder adaptierten. Die wichtigsten Quellen sind die Jenaer Handschrift (Mitte des 14. Jhdts.) mit 91 Minnesängermelodien des 13. und 14. Jahrhunderts, die Colmarer Handschrift (Mitte des 15. Jhdts.) mit 105 Minne- und frühen Meistersingermelodien, Sammelhandschriften mit den Liedern Neidharts von Reuental und des Mönchs von Salzburg, Kodizes mit den Kompositionen des letzten Minnesängers Oswald von Wolkenstein, schließlich einige zweifelhafte Aufzeichnungen in Meistersingerhandschriften, wie Adam Puschmanns Liederbuch von 1584/88.

Bei der Niederschrift sind Choralnoten verwandt (und zwar — bis auf die Jenaer Handschrift — in römischen Choralnoten zumeist die gotische Hufnagelschrift), die zwar die Tonhöhe und Notenverteilung angeben, nicht aber Taktart und Tondauer; daher bot die Interpretation des Rhythmus Anlaß zu manchen Hypothesen. Man plädierte für Transskriptionen: 1. nach dem Textmetrum in Gestalt fester (zweizeitiger) Taktgliederung, 2. nach rezitativisch freiem, oratorischem Rhythmus wie bei der Gregorianik, 3. nach der Moralrhythmik, d. h. nach fester Abfolge langer und kurzer Notenwerke in dreizeitigen, an die antiken Metren angelehnten Grundformeln, wie sie laut Theoretikeraussagen in der Polyphonie von 1150 bis 1250 praktiziert wurden und für die Troubadour- und Trouvèremelodien wahrscheinlich sind. Bevor man sie sammelte und aufzeichnete, unterlagen die Minnesängerweisen dem variierenden Umsingen der mündlichen Tradition, daher läßt sich kaum eine authentische Fassung wiederherstellen. Vermutlich resultierte der Rhythmus aus sprachlich-metrischen wie melodischen Gegebenheiten und wurde beim Vortrag lebendiger gestaltet. Bei vielen Sprüchen möchte man psalmodierenden Sprachrhythmus vorschlagen, bei geschlossenen Liedgestalten zwischen Hebungsrhythmik und zählender Modalrhythmik unterscheiden. Gegenüber dem melismatischen Tage- oder Wächterliedern verlangt das Tanzlied ausgeprägten Gleichtakt. Im Unterschied zum Rhythmus ist die Tonhöhe deutlich fixiert, daher läßt sich die Tonalität leicht bestimmen. Abgesehen von pentatonischen Bildungen wie c d e f g a c' stellen die Tonarten Skalenausschnitte mit den Grundtönen d e f g dar und entsprechen den Kirchentönen der Gregorianik Dorisch, Phrygisch, Lydisch, Mixolydisch samt ihren Nebentonarten. Jedoch begegnen auch Stücke mit dem Schlußton c, bei denen es sich vielleicht weniger um eine transponierte lydische Weise als um eine in der weltlichen Tradition wurzelnde Vorstufe unserer Durtonart handeln dürfte.

Bei der Vielgestaltigkeit der Melodien werden zwar kaum feste Formschemata, aber doch einzelne formale Tendenzen sichtbar. Das eigentliche Minnelied benutzte vorwiegend die Barform aus zwei gleichgebauten Stollen mit Abgesang (A A B), wobei man gern auf die Stollenmelodie zurückgriff (Reprisenbarform A A B A). Bisweilen wiederholte man ein Motiv mit Einschaltung kontrastierender Phrasen, wandelte die Grundform eines Motivs ab (Variation) oder reihte selbständige Phrasen aneinander (Durchkomposition). Auch für den Sangspruch, ursprünglich Rezitativ mit Abschluß durch Kadenz, setzte sich die Barform durch, oft mit Erweiterung des Abgesanges durch ein zweites Stollenpaar (A A B B C). Im Unterschied zum Lied pflegt man ganze Serien von Sprüchen auf den gleichen Ton, d. h. die gleiche Strophenweise zu singen. Paradestück des Minnesangs ist der Leich, der wie die Sequenz aus parallel gebauten Doppelversikeln ungleicher Länge besteht, aber gern Versikelgruppen wiederholt (A B B C C D D B B C C D D ...), also strophische Züge aufweist.

Als solistisch vorgetragene einstimmige Musik gehört der Minnesang zum Seitenzweig der um 1200 in Frankreich aufblühenden Polyphonie. Aus gelegentlichen instrumentalen Tonfiguren, aus zahlreichen Illustrationen und Berichten weiß man um die Mitwirkung von Instrumenten. Ungewiß bleibt, wie die Begleitung beschaffen war, ob sie über knappe Vor- und Zwischenspiele, über bloße Begleitung hinausging. Bei Sologesängen griff man gern zur Fidel (Vielle) oder einem Zupfinstrument, besonders zur Stütze von Melismen. Bei rhythmisch ausgeprägten Tanz-und Gesellschaftsliedern mochten sich die Klangwerkzeuge des Spielmannes angeboten haben, neben Streichinstrumenten (Fidel, Rebec, gestrichene Rotta) Zupfinstrumente (Laute, Harfe, Psalterium, gezupfte Rotta), Blasinstrumente (Flöte, Schalmei) und Schlagwerk (Rasseln, Schellen). Wahrscheinlich sind Praktiken improvisatorischer Mehrstimmigkeit, wie Liegestimme oder Begleitung der Parallelbewegung bereits vor ihrer Niederschrift im 15. Jahrhundert.

Vorwiegend bayerisch-österreichische Dichter waren es, die Mitte des 12. Jahrhunderts an das volkstümliche Tanz- und Liebeslied anknüpften und einfach gebaute unkonventionelle Strophen verfaßten, in denen noch die Frau um die Liebe des Mannes wirbt, wie im Falkenlied des Kürenbergers. Unter dem Einfluß der Troubadours bürgerte der Rheinfranke Friedrich von Hausen höfische, verinnerlichte Minneanschauung, romanische Strophen und Verskünste ein. Gegenüber dem engen Anschluß an provençalische und französische Vorbilder im Umkreis des staufischen Kaiserhofes wahrte die Spruchdichtung fahrender Sänger einheimische Tradition. Zur Vollendung brachten die romanisierende Richtung des Minnesangs der phantasievoll-ergriffene Thüringer Heinrich von Morungen und der formvollendete Wiener Hofdichter Reinmar von Hagenau.

Sein Schüler Walther von der Vogelweide (um 1170 bis um 1230) löste sich bald von den konventionellen, lebensfernen Minnedichtungen Reinmars. Seine große dichterische Leistung beruht darauf, daß er die engen Grenzen der höfischen Standesdichtung durchbrach. Seine Gedichte zeichnen sich „durch die Vielseitigkeit der Themen, Formenreichtum, Tiefe der Empfindung und des Ethos, durch bildhaft-knappe, zutiefst poetische Sprachgestaltung“ aus, die er „auf eine in seiner Zeit und lange danach nicht wieder erreichte Höhe hob“. Walther „beherrschte die lyrischen Formen vom einfachen, volksliedhaft-melodischen Liebeslied über den geschliffenen Spruch bis zum ausdrucksstarken, wachrüttelnden politischen Strophengedicht“.

Seine dichterische Hinterlassenschaft umfaßt außer einem Leich 72 weltliche und religiöse Lieder. dazu 18 echte und 4 zweifelhafte Sangspruchtöne mit rund 140 Strophen. Jedoch sind (im Münsterer Fragment einer Spielmannshandschrift) nur die Weise des Palästinaliedes vollständig und zwei oder drei Melodien-Fragmente zu Spruchtönen erhalten, einige weitere zu meistersängerischen Kontrafakturen überliefert. Ob sich Töne Walthers aus metrisch entsprechenden romanischen Texten gewinnen lassen, bleibt umstritten.

Im Spruch „Mir hât her Gerhart Atze“ (Nr. 1) wird ein Rechtsfall am Thüringer Hof geschildert, in dem es um Walthers gesellschaftliches Prestige geht. Der urkundlich bezeugte Ritter Atze hatte ihm sein wertvolles Reitpferd erschossen. Walthers Schadenersatzforderung wurde abgewiesen, da ihm, der nicht zum Ritterstand gehörte, kein ritterliches Pferd zustehe. Atze erklärte, Walthers Pferd sei vom gleichen Stamm gewesen wie jener Ackergaul, der ihm einen Finger abgebissen und ihn damit geschändet habe (wurden doch im Mittelalter Meineidige und Diebe mit Abhacken eines Schwurfingers bestraft). An die Klage gegen den Beleidiger schließt sich eine Mahnung an: Der Landgraf möge wie ein unkrautjätender Gärtner den Hof von störenden und lärmenden Elementen befreien.

Die drei Strophen dieses Spruches bauen sich übersichtlich aus zwei vierzeiligen Stollen und einem Abgesang von gleichem Umfang auf. Als Melodie glaubte man eine Weise aus Puschmanns Meistersingerbuch unterlegen zu können, dort „Walthers Kreuzton“ genannt und mit einer Psalmdichtung von Hans Sachs verbunden, obgleich Differenzen in Text- und Melodiegestalt auftreten. Die in den Oktavrahmen gespannte Spruchmelodie, deren Zeilen zumeist auf den Grundton d kadenzieren; weist ausgeprägte Reprisenbarform auf.

Zu den schönsten Liedern Walthers gehört „Under der linden“ (Nr. 2), die Erinnerung eines Mädchens aus dem Volk an das genossene Liebesglück. Um den federnden, in der Silbenzahl wechselnden Rhythmus mit dem Klangrefrain „tandaradei“ musikalisch auszudeuten, unternahm man den Versuch, die Melodic eines anonymen altfranzösischen Liedes von ähnlichem, aber nicht identischem Strophenbau („En mai au douz tens nouvel“) zu unterlegen. Ob die sich im engen Quartraum kurzzügig ergehende Weise den dichterischen Gehalt von Walthers Mädchenbeichte aufzuschließen vermag, bleibe dahingestellt. Gegenüber diesen späten bzw. hypothetischen Adaptionen handelt es sich bei dem Palästinalied „Nu alrest lebe ich mir werde“ (Nr. 3) um eine originale Melodie, der einzig komplett erhaltenen Walthers. Ohne daß der Dichter am Kreuzzug Friedrichs II. von 1228 teilgenommen hätte, signalisiert er den tiefen Eindruck, den das Betreten Palästinas bei vielen Rittern erweckte, und schließt eine Darstellung der Heilsgeschichte an. Durchaus dem Text angemessen, erinnert die melismenreiche dorische Komposition in der Form a b://a1 c b vielfach an die Gregorianik. Als Vorbild betrachtete man einen lateinischen Hymnus oder ein Lied des Troubadours Jaufre Rudel. Erwiesen ist, daß die tiefsinnige Kreuzfahrerweise in einer geistlichen Kontrafaktur der Bordesholmer Marienklage um 1470 weiterlebt, Zeichen ihrer Resonanzkraft.

Wie Walther entstammte Neidhart von Reuental (um 1180 bis 1237) dem niederen Ministerialenadel, konnte aber seßhafter leben, zuerst auf einem kleinen Burgsitz in Bayern, bis er — nach Entzug seines Lehens — vom österreichischen Herzog ein Gut in Melk an der Donau erhielt. Er wurde zum Repräsentanten der ,,höfischen Dorfpoesie“, die ihren Reiz aus dem Kontrast des bäuerlich-derben Inhalts mit der geschliffenen Sprachkunst gewinnt. Parodistisch gemeint, sind die einfach gebauten Sommerreihen wie die umfänglicheren Winterlieder zum Vortrag in höfischen Kreisen bestimmt. Seine Wirkung zeigte sich in Imitationen anonymer Sänger, im Einfluß auf die spätmittelalterliche Dichtung und im Fortleben Neidharts als Held zahlreicher Schwänke. Soweit die reiche, aber nicht immer gesicherte musikalische Überlieferung erkennen läßt, wendet er sich weit mehr als Walther von der gregorianischen Melismatik zu einem ausgesprochen liedhaften Stil, den syllabische Vertonung, straffe Periodenbildung, tanzhafte Rhythmik und Gebrauch geläufiger Melodieformeln kennzeichnen.

Das Lied „Meie dîn liehter schîn“ (Nr. 4) ist unter Neidharts Liedern überliefert, stammt aber vielleicht von einem anderen Dichter. Darauf läßt schon die für die Sommerreihen untypische, stollenähnliche Anlage des nicht eben urwüchsigen Stückes schließen. Die ersten Strophen klagen in Ichform um unerfüllte Minne, während die vierte einen idealen jungen Mann preist. Die dorische Melodik erwächst aus dreitönigem Quintsprung und reiht kurzzügige repetitionsreiche Motive aneinander; mit dem Abgesang springt sie zur Oktave über dem Grundton, um dann schrittweise abzufallen und in den Stollenschluß einzumünden. Unstollig gebaut wie Neidharts echte Sommerreihen ist das gleichfalls dorische „Blôzen wir den anger ligen sâhen“ (Nr. 5). Im Anschluß an den frischen Natureingang schildert ein Mädchen ihren Gefährtinnen das Erwachen der Landschaft im Frühling und führt ein Zwiegespräch mit ihrer Mutter, die von der Liebe zum Ritter abrät, indes die Tochter auf ihrem Willen besteht. Die Melodieglieder bilden infolge Halb- und Ganzschluß-Verhältnis zwischen der dritten und sechsten Zeile zwei Abschnitte.

Die Schlußstrophe eines Winterliedes, „Fürste Friderich“ (Nr. 6), verheißt Neidharts Gönner, Herzog Friedrich II. von Österreich, als Gegenleistung für ein Häuschen den Dienst seiner Hände auf Erden, im himmlischen Leben aber ein Preislied. Dem Wechsel von Kurzzeilen mit einer Langzeile am Stollenschluß entsprechen den Bögen der phrygischen Weise, die im Abgesang wiederholt und variiert werden.

Zu den Pseudo-Neidharten gehört das pentatonische Reigenlied „Meienzit“ (Nr. 7), das eine Bauernrauferei detailliert genug schildert. Seine fast schlagerhafte Eingängigkeit verdankt es zunächst der Versform mit ihrer Häufung von Zweitaktern und den im Ohr haftenden Reimen. Melodisch korrespondiert der Wechsel von Terzverbänden oder Dreiklangsbrechungen mit enger Schrittbewegung. Der Abgesang nimmt nach einer Zwischenzeile die Stollenmelodie auf, so daß eine symmetrische Reprisenbarform resultiert.

Verwandt mit Neidharts Tanzliedern sind einstimmige Instrumentaltänze spielmännischer Herkunft, an die sich auch instrumental ausführbare deutsche Liedtenores („Chançonetta Tedescha“) einer norditalienischen Handschrift mit Repertoire des 14. Jahrhunderts reihen (Nr. 8 u. 10).

Nach der Blütezeit des Minnesangs erstarrt dessen höfischer Zweig in überfeinertem Epigonentum, die dörperliche (von dorpaere = Dörfler) Dichtung bietet dazu ein derb-realistisches Gegenbild. Fahrende und bürgerliche Dichter setzen den Sangspruch Walthers in verschiedenster Gestalt fort, zunehmend gelehrt-weitschweifig.

Der Regensburger Ministeriale Reinmar von Brennenberg (vor 1276 gest.) schrieb Minnestrophen zum Preis seiner Herrin und einen Nachruf auf die verstorbenen Dichterkollegen in einem schwer ausladenden Spruchton (Nr. 9, sechs von dreizehn Strophen). Im psalmodierend gehaltenen äolischen (Brennenberger) Ton der Colmarer Handschrift erscheint die Verdopplung des Strophenpaares im Abgesang mit einer Art Rondoform verquickt.

Ein mitteldeutscher Spruchdichter, der Unverzagte (um 1280), rügt nach ironischem Lob der Rittertugenden des Königs Rudolf von Habsburg dessen Geiz, der die Existenzbedingungen des fahrenden Sängers untergräbt. In volkstümlich epischen Wendungen werden die Lehnsherren zur Freigebigkeit, die Ritter und Knappen aber zur Treue ermahnt. Der drastische Vergleich des Wucherers mit einem Mastschwein, das erst nach seinem Tod Nutzen stiftet, spiegelt die sozialen Wandlungen durch die Geldwirtschaft (Nr. 11, sechs von neun Strophen). Ebenso sparsam in seinem motivischen Material wie plakathaft wirksam ist die 1-dur-Weise aufgebaut; dic nach Quartauftakt rüstig dahinschreitende Stollenmelodie wird doppelt wiederholt, um nach einem gleichfalls verdoppelten substanzverwandten Zwischenglied am Schluß verbreitert wiederzukehren.

Eine Erneuerung der höfischen Lyrik durch Gelehrsamkeit, philosophische Spekulation und geblümte Sprachkunst versuchte Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob (um 1250 bis 1318). Auf seine Autorität beriefen sich die späteren Meistersinger, obgleich sich der fahrende (zuletzt in Mainz ansässige) Hofsänger an ein exklusives Publikum wandte. Kaum ein stärkerer Kontrast läßt sich denken als zwischen der derben Bauernsatire Neidharts und der preziösen Minnelehre Heinrichs (Nr. 12, drei aus zwölf Strophen): eine Mahnung an die Frau, sich der Gecken zu erwehren, am Mann die Tugend zu pflegen, wie es heißt, „das Bild seines Herzens rein im Schild der Minne zu spiegeln“. Die Melodie zu dem achtzehnzeiligen Sangspruch mit seinen verschlungenen Reimbildungen ist trotz des gewaltigen Stimmumfangs von fast zwei Oktaven fein ausbalanciert. Die einzelnen, in immer größeren Bogen ausschwingenden Melodieglieder des Stollens kehren im Abgesang transponiert und variiert wieder bis zur abschließenden Wiederholung der letzten beiden Stollenphrasen.

Sein Zeitgenosse Fürst Wizlaw III. von Rügen (gest. 1325) verfaßte niederdeutsch gefärbte Sprüche und Minnelieder, deren Melodien beträchtliche stilistische Spannweite zwischen subtiler Formkunst und schlichtem Volkston zeigen. Der Sangspruch „Ich warne dich, vil iungher man“ (Nr. 13), eine Mahnung zur Mildtätigkeit, ist ausnahmsweise einstrophig überliefert, indes ließ der Schreiber Platz für zwei weitere Strophen. Vom responsorialen Psalmgesang bestimmt, scheint die freirhythmische Melismatik so improvisatorisch dahinzuströmen wie es die Umrisse der Barform gestatten. Reich umspielt begegnen zwei verschiedene Rezitationstöne, bis die Schlußkadenz in ein krauses Rankenwerk ausläuft. Konträr dazu stehen die sinnfällige Korrespondenz des Minneliedes „Loybere risen“ (Nr. 14) in strenger Reprisenbarform. Von dem traurigen Herbstbild mit fallenden Blättern, verwelkten Blumen und tödlichem Reif wendet sich der Dichter zu der überschwenglichen Freude, die seine Geliebte spendet. Es liegt nahe, den Wechsel von dreizeitig-daktylischen Zeilen mit alternierenden, auch durch eine möglichst labile rhythmische Obertragung wiederzugeben. Doch wäre es eine unzulässige Modernisierung, etwa in den wiegenden Motiven und weiblichen Schlüssen eine Ausdeutung der dichterischen Atmosphäre zu erblicken. Die beiden antithetischen Strophen werden nach der gleichen Weise gesungen, in jener objektiven Wort-Ton-Einheit, deren Typenhaftigkeit das mittelalterliche Liedschaffen charakterisiert.

Lukas Richter (1971)