Inspiration / VocaMe
HILDEGARD von Bingen. Lieder und Visionen






medieval.org
vocame.de
Berlin Classics 300 425

2012








1. Studium Divinitatis  [1:39]       2. Spiritus Sanctus  [4:54]

3. O ignis Spiritus  [4:16]       4. O virtus Sapientiae  [1:34]

5. O spectabilis viri  [5:16]       6. O virga ac diadema  [5:38]

7. Aer enim volat  [2:43]       8. Rex noster  [4:36]

9. Cum processit  [2:23]       10. O quam mirabilis  [4:04]

11. O virga mediatrix  [2:31]       12. Tu rubes ut aurora  [4:33]

13. Columba aspexit  [5:29]       14. O tu illustrata  [5:39]

Bonus
15. Studium Divinitatis  [2:41]
in Kunstkopfsteree • binaural dummy head recording




VocaMe
Michael Popp

Sigrid Hausen • Sarah M. Newman • Petra Noskaiová • Gerlinde Sämann
Michael Popp, Fidel, Harfe, Monochord, Glocken, Santur, İklığ, Dilruba, Oud
Guest:
Ernst Schwindl, Drehleier




Recording: October 2012, Munich
Recording Producer: Michael Popp
Recording Engineers: Jan Vacik, Daniel Rehbein

Photos: Severin Schweiger • Hair & make up: Arova Erer
Photo location: Schottenkirche St. Jakob, Regensburg
Design: Groothuis, Lohfert, Consorten

We extend our sincere thanks to the Herz-Jesu-Kirche in Munich
and the Schottenkirche St. Jakob in Regensburg.

© 2012 Edel Germany GmbH

Track 15 wurde mit einem speziell von der Universität Aalborg, Dänemark,
entwickelten Kunstkopf erstellt, der das menschliche Gehör naturgetreu nachbildet
und eine absolut realistische drei-dimensionale Wiedergabe des Klanggeschehens erlaubt.
Für den perfekten Hörgenuss verwenden Sie bitte einen Kopfhörer.
Kunstkopfaufnahme und Mastering: Claus Bräunlein   

Track 15 was made with a Kunstkopf ("dummy head") specially developed by the University of Aalborg in Denmark,
which gives true-to-life modelling of human hearing and permits absolutely realistic three-dimensional reproduction of the sonic landscape.
For full listening enjoyment, please use headphones.
Binaural dummy head recording and mastering: Claus Bräunlein









Hildegard von Bingen wurde im Jahr 1098 geboren, trat noch als Kind in das Kloster in Disibodenberg ein, wo sie bis zum 43. Lebensjahr in Klausur lebte. Diese ganze Zeit über, beginnend schon im Alter von drei Jahren, hatte sie eigenen Angaben zufolge Visionen und Auditionen (in denen sie Musik hörte), bis sie sich entschloss, die Klausur zu verlassen, ihr eigenes Kloster zu gründen und als Visionärin öffentlich in Erscheinung zu treten. Bis zu ihrem Tod im Jahre 1179 veröffentlichte sie Bücher über die verschiedensten Themen, ließ 77 Gesänge und das geistliche Drama »Ordo Virtutum« niederschreiben, predigte öffentlich und stand mit führenden Persönlichkeiten ihrer Zeit in regem Schriftkontakt.

Vieles, fast möchte ich sagen, all zu vieles ist in den letzten drei Jahrzehnten über Hildegard geschrieben worden. Für uns als Musiker und Interpreten ihrer Werke wäre es manchmal beglückender, Ungelehrte zu sein im Sinne Hildegards, die sich selbst als »Indocta«, als »Ungelehrte« bezeichnete. Deshalb möchte ich hier lediglich ein paar persönliche Anmerkungen zu meiner Auseinandersetzung mit der musikalischen Hinterlassenschaft der nunmehr offensichtlich heilig Gesprochenen anfügen.

Schon zu Beginn meiner Beschäftigung mit Alter Musik fielen die Gesänge Hildegards durch ihre rätselhafte Einzigartigkeit im zeitgenössischen Kontext auf. Weder vorher, noch gleichzeitig, noch in der Nachfolge konnte man Vergleichbares, Vorläufer oder Nachwirkungen, etwa in Form einer »Hildegard-Schule« feststellen. Wie aus dem Nichts schien diese Musik aufzutauchen und wieder zu verschwinden.

Wir nahmen mit dem Ensemble Estampie in den 80er Jahren einige wenige Gesänge in unser Programm und auf CD auf, doch sie schienen sich gegen eine Verbindung mit dem restlichen Material der Mittelaltermusik zu sperren. Mein Respekt und eine gewisse Scheu vor der Singularität und gleichzeitig der formalen Geschlossenheit des Hildegard-Werkes (der Wiedererkennungswert von Hildegard-Gesängen ist extrem hoch) führte in dazu, dass ich mich in den folgenden Jahren ihm nur in Form von Adaptionen und Verfremdungen nähern mochte.

Zwei große Projekte nahmen wir in Angriff: den Ordo Virtutum als teilweise modernisierte Version mit Tanz, Chor, Kammerorchester und unserem Ensemble Estampie (Uraufführung im Jahre 1991 im Hildegard-Kloster Eibingen) und darauf die Tanzperformance »Materia Mystica«, die 1998 in München uraufgeführt und auf CD aufgenommen wurde. Hierbei handelte es sich um den Versuch, Hildegards Naturphilosophie der modernen Naturwissenschaft gegenüber zu stellen.

Mit der Gründung des Ensembles VocaMe im Jahre 2008 änderte sich die Situation erneut. Wir hatten eine CD mit den Gesängen der byzantinischen Komponistin Kassia aus dem 9. Jhd. eingespielt und die Beschäftigung mit komponierenden Frauen des Mittelalters war plötzlich wieder ganz gegenwärtig. Wiederum studierte ich Quellen, Texte und Literatur über Hildegard und eines fiel mir diesmal besonders auf: die unglaublich inspirierte und inspirierende Kraft dieser Melodien, ungeachtet dessen, ob und in wie weit nun Hildegard die wirkliche Urheberin der Musik war. Ist denn die Schilderung, die Melodien direkt durch »Audition« erfahren zu haben etwas anderes als das, was man heute »Inspiration« (wörtlich »Einhauchung«) nennen würde?

Als Ensemble empfanden wir auch unsere Einspielung als Auftrag in diesem Sinne. Auch die Aufnahme selbst sollte — ohne uns mit der Größe einer Figur wie Hildegard vergleichen zu wollen — inspirierend und kreativ sein. Sie sollte neben der Genialität der originalen Überlieferung auch ein kleines Stück unserer individuellen Auseinandersetzung mit diesem Werk, also einen neuen Klang, zu Gehör bringen.

Es liegt ein langer, erfahrungsreicher und in Bezug auf die künstlerischen Erlebnisse lehrreicher und befriedigender Weg hinter uns, der letztlich in diese Aufnahme mündete. Ich hoffe, dass es uns gelungen ist, Ihnen als Hörer Herz und Geist für diese Erlebnisse sowie — noch wichtiger — für die Inspiration, Kreativität und Spiritualität von Hildegards Musik zu öffnen.

Michael Popp









Hildegard of Bingen was born in 1098, and whilst still a child she joined the monastery in Disibodenberg to live in seclusion until she was forty-three. By her own account, she had visions and auditions (in which she heard music) from the age of three. Then she decided to go out into the world, establish her own monastery and appear in public as a visionary. By the time she died in 1179 she had published books on a great variety of subjects, had 77 songs and the sacred drama Ordo virtutum notated, preached in public and actively corresponded with leading personalities of her time.

Much, perhaps too much, has been written about Hildegard in the last three decades. Being musicians and performers of her works, we would sometimes be happier to be as unlearned as Hildegard, who described herself as indocta. I therefore merely add a few personal notes about my involvement with the musical legacy of the visionary who has been made a saint.

Even at the beginning of my involvement with early music, the mysterious uniqueness of Hildegard's songs made them stand out from those of her contemporaries. Neither precursor nor resultant works exist, let alone a "Hildegard school". This music seems to have appeared out of the blue and then disappeared again.

We performed a few songs with the Estampie ensemble in our programme and on CD in the 1980s, but they seem to militate against being coupled with other medieval music. My respect and a certain awe of the singularity and formal unity of Hildegard's oeuvre (Hildegard's songs are unmistakable) caused me in the ensuing years to limit my approach to her to adaptations and alienations.

We then set about two large projects: a partly modernized version of the Ordo virtutum with dancers, chorus, chamber orchestra and our Estampie ensemble was premiered at the Abbey of St Hildegard in Eibingen in 1991, while the dance performance Materia Mystica was premiered in Munich in 1998 and recorded on CD. The latter project was an attempt to confront Hildegard's philosophy of nature with modern science.

The formation of the VocaMe ensemble in 2008 changed the situation once again. Recording a CD of ninth-century songs by the Byzantine composer Kassia returned our attention to the subject of medieval women composers. I again studied Hildegard's works and the literature on her and this time was particularly struck by the incredibly inspired and inspiring power of the melodies, irrespective of whether and to what extent Hildegard herself had actually written them. After all, is experiencing melodies directly by "audition" any different from what we today call being "inspired" (which literally means "breathed into")?

We in the ensemble saw our recording in that way. Without meaning to compare ourselves with the great Hildegard, we wanted the recording itself to be a source of inspiration and creativity. And it was intended to convey, in addition to the genius of the original tradition, a small portion of our individual involvement with the work — in the form of a new sound.

The road that finally led to this recording has been long and rich in experience and artistically informative and satisfying. I hope that we have succeeded in opening your heart and spirit for these experiences and — more important — for the inspiration, creativity and spirituality of Hildegard's music.

Michael Popp
Translation: J & M Berridge